Sonntag, 15.07.2012
Seiffen nach Neuhermsdorf
7 h / 27 km
Wieso ist der Laden eigentlich beim Frühstück immer noch bumsvoll? Ich prügele mich mit zig Rentnern um die verbliebenen Brötchen (das Pensionistenpack stürmt ja schon immer zu frühestmöglicher, am besten nachtschlafener Zeit zum Frühstücksbuffet und die Spätaufsteher müssen dann um 08:30 Uhr gucken, was noch übrig ist), weine innerlich Tränen über die bittere Industriewurst-Platte und nehme mir aus purem Masochismus ein Ei aus dem Korb, das dann aber zum Trost doch überraschenderweise perfekt weichgekocht ist.
Zum Abschied fotografiere ich für die Nachwelt noch den uralten Nokia-Hotelfernseher, wer weiß, wie lange es diese Firma überhaupt noch gibt. (Einschub: Am Abend habe ich mal versucht zu recherchieren, aus welchem Jahrzehnt das Ding wohl sein mag, leider vergeblich. Ich vermute aber mal: Frisch nach der Wende gekauft...)
Mein Weg führt mich wieder rüber nach Tschechien, die schnurgeraden deutschen Forststraßen werden allmählich immer zerwühlter von den großen Forstmaschinen, die hier gewütet haben. Auf dem letzten Stück zur Grenze ist der Weg nur noch ein windiger Pfad mit gelbem Gras zwischen sauren und moderigen Sumpfwäldern. An der Grenze gibt es einen überdachten Picknicktisch und passenderweise auch die ersten Tropfen vom Himmel. Hört aber gleich wieder auf, statt dessen verfluche ich meine dämliche Wanderkarte. Schon auf deutschem Gebiet hasse ich diese grafischen Kompaß-Karten, die so viele Informationen und Wege einfach mal galant weglassen, aber hier in Tschechien müsste man die Karte eigentlich mit einem lauten Seufzer im nächsten Graben versenken. Es gibt Wege, wo auf der Karte keine eingezeichnet sind und die Wege, die eingezeichnet sind, gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Nach einer Stunde bin ich so frustriert, daß ich wieder in Richtung Deutschland abbiege. Schließßlich kann man auch auf der anderen Seite an der Grenze entlang laufen.
Erst im letzten Moment winkt mir eine rote Wegmarkierung zu und gibt mir wieder etwas Vertrauen in die Wegführung in diesen vollkommen menschenleeren Wäldern. Wanderer oder überhaupt irgendwelche Menschen habe ich bei meinen Ausflügen nach Tschechien bisher nicht gesehen. Drüben in Deutschland ist die Hölle los, markierte Wege, drängelnde Gasthäuser, werbende Pensionen, schlendernde Rentner. Und in Tschechien? Nüscht. Nur Wald und Weg und Ruhe. Und seltsamerweise immer noch das kleine Kribbeln von Abenteuer, unterwegs im Ostblock. Der Weg führt mich hoch hinaus und belohnt meine Entscheidung, im Osten weiterzulaufen, mit schicken Aussichten. Hinter dem nächsten Gipfel (Jeleni hlava) treffe ich plötzlich neben einer Holzerntemaschine auf den schwarzen Skoda Superb, der mich vorhin auf der Straße fast über den Haufen gefahren hätte. Der Fahrer hantiert oben am Harvester herum und ich bin mir nicht ganz sicher, ob er gerade Diesel mopst oder ob ich mir das einfach so aus meinem osteuropäischen Vorurteilskatalog rausgesucht habe.
Jedenfalls hasse ich die tschechischen Waldarbeiter dafür, daß sie meinen Weg für die nächste Stunde mit ihren Kettenfahrzeugen komplett zu Brei gefahren haben. Waten im Matsch, ausweichen ins Unterholz, balancieren auf glitschigem Untergrund. Als ich weiter unten wieder auf einen festen Weg komme, erschrecke ich eine dicke Moutainbikerin fast zu Tode, weil ich direkt neben ihr unerwartet aus einem Birkengebüsch breche. Vorher war sie eher im Schlendertempo unterwegs, ich hab's genau gesehen, aber jetzt gibt sie Gas. Mein fieses Grinsen entschädigt mich für die kraftraubende letzte Stunde Weg. Bis zur Talsperre Rauschenbach geht es entspannt ein einsames Flußtal entlang, linker Hang Deutschland, rechter Hang Tschechien. Als die ersten Häuser von Český Jiřetín (Georgendorf) auftauchen und mit ihnen die ersten Wochenendausflügler, stelle ich mal wieder enttäuscht fest: Hier grüßt knallhart niemand zurück. Nicht auf Ahoj, nicht auf ein freundliches Kopfnicken, nicht auf ein brummelig-deutsches Hallo. Dann eben nicht, ihr Würste. Vorbei an allen Restaurants und Grenzbuden gehe ich wieder rüber nach Deutschland, aus Trotz.
Ein paar Kilometer im Wald lese ich gerade interessiert eine historische Infotafel am Wegesrand, als mich der Regen kalt erwischt. Wo kommt DER denn jetzt her? Praktischerweise weiß ich, daß ich vor 50 Metern einen überdachten Picknicktisch gesehen habe, der mir natürlich wie gerufen kommt. Für die Großgruppe Mountainbikefahrer ist der natürlich zu klein, also müssen sie alle mit verkniffenen Gesichtern weiter im Regen fahren. Viel Spaß... Ein gutes Stück weiter wartet die Waldgaststätte Torfhaus am Weg vergeblich auf Kundschaft. Wie ich mir dieses Haus so ansehe, muß ich schwer in meinen Erinnerungsschubladen wühlen, aber es beschleicht mich das deutliche Gefühl, daß ich hier schonmal war. Vor 10 Jahren habe ich mit meinem damaligen Mitbewohner Basti eine kleine Erzgebirgstour gemacht, da kamen wir an einer verfallenen Ex-Jugendherberge vorbei. Irgendwie könnte das dieses Haus gewesen sein -- zumindest wenn man sich die anscheinend recht kürzliche Renovierung wegdenkt. An der nächsten Kreuzung klingelt die Erinnerung schon wieder Sturm, aber erst kurz vor dem nächsten Dorf Teichhaus bin ich mir ganz sicher: Auf diesem Weg bin ich schonmal gegangen, wenn auch in die andere Richtung.
Dann geht es Schlag auf Schlag: Den affigen Wanderer-Grenzübergang: Kennich. Den Weg auf dem alten Bahndamm: Kennich. Jetzt warte ich nur noch auf die kleine Schutzhütte, die wir uns damals auf der Tour als Notunterkunft im Hinterkopf aufgehoben haben, falls wir keine ordentliche Übernachtungsmöglichkeit finden. Und während ich da so stehe und Erinnerungspuzzle spiele, merke ich viel zu spät, daß sich ein Gewitter von hinten herangeschlichen hat. Den ganzen Tag bin ich trocken geblieben, jetzt wird's ernst.
Rasend schnell wird es so dunkel, als würde gleich die Sonne untergehen, der Donner kommt immer näher und ich hechte im Stechschritt bergauf, das Hotel muß gleich da oben am Waldrand sein. Am Waldrand angekommen ist auch der Regen, ich habe aber Glück und erreiche mit Endspurt den trockenen Eingang, bevor draußen die Wolken brechen. Aber ich bin drinnen, habe ein sehr cooles und sehr günstiges Zimmer, endlich mal wieder richtig Platz. Später beim Abendessen könne ich Tränen der Rührung weinen, denn es gibt neben der Standard-Schnitzelgaststätte (wo kaum jemand sitzt) auch eine kleine Pizzeria (wo es bumsvoll ist) in diesem riesigen Hotelkasten. Während ich meine richtig gute Riesenpizza mampfe, töte ich mit Blicken den ständig kläff-äff-äffenden Dackel unter dem Nebentisch, bedenke Herrchen und Frauchen zum Abschied noch mit dem etwas unfreundlichen Hinweis, die Töle beim nächsten Mal vielleicht zuhause zu lassen und falle zufrieden ins Bett. Draußen plätschert die Dachrinne, ein Sound aber, dem ich vom Bett aus immer gerne zuhöre.
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