Freitag, 18. Mai 2012

Fasching für die Augen.


Donnerstag, 17.05.2012
Lucinges nach Habère-Poche
8 h / 25 km

Schnell los, meine doofe Unterkunft hat vergessen, mir das Frühstück zu berechnen. Normalerweise bin ich ja ein ehrliches Kerlchen, aber bei so Läden, die nur aus Versehen Zimmer vermieten und dann auch noch überteuert sind, kenn ich nix.

Der Rucksack zerrt schwer an meinen Schultern und will eigentlich das Gegenteil von "schnell". Auf dem letzten Stück Straße hoch nach La Grange de Boege rasen die letzten Wochenendheimfahrer auf dem Weg in ihr Häuschen an mir vorbei. Mit "beschaulicher Ruhe am Berg" ist es hier schon lange vorbei. Überall Ferienhäuser, die versuchen, mit intensiver Heckenbepflanzung ein Stück Privatsphäre abzustecken. In der Ferne sieht man Genf und die sich davon ernährenden französischen Kleinstädte und wenn man sich so im Tal und an den Berghängen umschaut, bestätigt das Ausmaß der Bebauung auf jeden Fall das grobe Rezept "in der Schweiz arbeiten, in Frankreich wohnen".

Auf dem Parkplatz am Start des Wanderwegs steht trotz Feiertag und schönem Wetter kein einziges Auto. Eine halbe Stunde später ahne ich langsam warum: Der Weg existiert zwar, aber nicht so richtig offiziell. Also suche ich mir mit der Karte einen Weg rauf zum Col du Pralère, treffe unterwegs im Wald die ersten Gemsen und schwitze mir schonmal zum zweiten Frühstück die Seele aus dem Leib. 500 Höhenmeter weiter mache ich erstmal Pause in der Sonne. Der Rucksack muß unbedingt leichter werden, daran arbeite ich ganz verbissen, indem ich erstmal die restlichen Tomaten wegmampfe. Das hilft doppelt.

Daß Feiertag und schönes Wetter ist, merkt man oben schnell auch am Wanderer-Gegenverkehr. Die halbe Region ist heute auf diesen Berg gekraxelt, um sich Aussicht anzuschauen. Ich muß zugeben: Dieser Wanderweg mit dem schönen Namen "Balcon du Léman" trägt seinen Namen zurecht. Ständig muß ich Aussicht nach links (Genf, Lac Léman, Jura) und nach rechts (Mont Blanc und zig andere schneebedeckte Gipfel) anschauen. Geradezu widerlich...

Auf einem kleinen grasbewachsenen Zwischengipfel mache ich erstmal eine kleine Stunde Mittagsschlaf und werde von heulenden Kindern geweckt, die kurz darauf von genervten Eltern auf den Gipfel getrieben werden. Nach drei Minuten fröhlichen Umherlaufen ist ihnen schon wieder langweilig und sie ziehen weiter... Ein Stück weiter gibt es ein Kloster etwas unterhalb am Hang, da führt eine Straße hin und entsprechend bevölkert sind die Aussichtspunkte hier oben. Ich drücke ein bißchen aufs Tempo, um das Volk hinter mir zu lassen und versöhne mich erst an der kleinen Kapelle Notre Dame des Voirons wieder mit der Welt, als ich eine junge Nonne erschrecke, die gerade aus der Kapelle kommt. Eigentlich ein schönes Bild -- die Kapelle liegt ganz alleine im Wald, nur ein stiller Weg führt dahin. Sie geht besonnenen Schrittes wieder in Richtung Kloster, ich schaue ihr noch ein bißchen nach und drehe nach rechts in Richtung Tal ab.

Auf dem Weg zum Col de Saxel freue ich mich schon insgeheim auf den nächsten Anstieg danach, denn hinter Saxel liegt Super Saxel, wie mir meine Wanderkarte schonmal berichtet. Nochmal saftige 400 Höhenmeter weiter habe ich ein mittleres Motivationstief und sitze erledigt auf einer Wiese und muß mir vor allem schon wieder Aussicht anschauen. Amtlicher Tag heute: Von der Entfernung her eigentlich pillepalle, aber die kleinen Wege und die Höhenmeter kosten ordentlich Kraft. Im Kopf überschlage ich, daß ich noch locker drei Stunden unterwegs sein werde und mache mich tapfer seufzend wieder auf den Weg.

So anstrengend die nächsten Stunden auch sind - es sind die schönsten Stunden dieses Tages. Ich liebe dieses Gefühl, wenn der Nachmittag schon vorbei ist, die Sonne merklich sinkt, man schon eine gute Strecke hinter sich hat, ganz alleine im Wald unterwegs ist, weil alle anderen Wanderer schon beim Abendessen sitzen und man einerseits auch noch ein saftiges Stück Weg vor sich hat, was aber auch kein Problem ist, weil es noch lange genug hell ist und die Kraft schon noch ausreichen wird. Mit genau diesem Gefühl absolviere ich die letzten Stunden des Tages über matschige Höhenwege, auf denen sich zum Leidwesen meiner Stiefel schon Generationen von Motocross- und Quadfahrern vergnügt haben.

Als ich in Habère-Poche einlaufe, kann ich schon von weitem das gelbe 60er-Jahre-Ferienstraflager sehen, in dem ich heute Abend mein Zimmer reserviert habe. Mir schlägt eine schräge Jugendherbergsatmosphäre entgegen, die von einem nicht unhübschen Zimmer konterkariert wird. Für ein Abendessen bin ich entweder zu müde oder zu geizig oder zu vernünftig und futtere statt dessen weiter an den Vorräten aus meinem Rucksack. Das hilft doppelt - spart Geld und Gewicht.

Ich bin gespannt auf morgen... Da, wo ich eigentlich hinwollte, habe ich - wahrscheinlich dank verlängertem Feiertagswochenende - kein Zimmer mehr bekommen. Also geht's morgen bis Vacheresse, was gefühlt eher 1,5 Tagesetappen sind. Mal sehen, wann bzw. wie oft ich mich morgen dafür verfluchen werde...

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