Samstag, 02.06.2012
Lutter (F) nach Weil am Rhein (D)
6,5 h / 30 km
Extra früh raus. Frühstück um 08:00. Auf der Straße um 08:45. Vollgas auf der D23 in Richtung Wolschwiller. Es ist ein rastloser Morgen, der letzte Tag in Frankreich beginnt. Ich habe das Gefühl, daß eine riesige Strecke vor mir liegt und will Tempo machen. Heute Abend habe ich mir ein höchst seltsames Hotel im 6. Stock eines Einkaufscenters direkt am Rhein ausgesucht. Das wird bestimmt schräg (mit Einkaufscenter-Hotels habe ich bisher eigentlich immer schräge Erfahrungen gemacht), aber es gibt ein unschlagbares Argument: Ich könnte heute Abend noch shoppen. So richtig: Shoppen. Also sowas wie eine zusätzliche kurze Hose. Oder wie neue Wandersocken (ich hör Monsieur L'Ombrage schon im Hintergrund prusten). Und Wanderkarten für die nächsten Wochen. Also raus auf die Straße, Strecke machen.
Es war ein rastloser Morgen, bis zu dem Moment, als ich die Tür des Gasthofs hinter mir zuzog und hinausging in einen klaren Sommermorgen, voll mit gleißendem Sonnenlicht. Hinter den letzten Häusern von Lutter öffnete sich der Horizont wieder auf Berge und Wiesen und Kirchtürme und innerlich entspannt sich sofort wieder alles. Das Hämmern meiner Stiefel auf dem Asphalt klopft alle Gedanken an "Erledigen!" oder "Du mußt heute noch!" in Windeseile weich. Und die kilometerweite Aussicht auf ein ruhig daliegendes Land bläst alles weg, was von diesen Gedanken noch übrig geblieben war.
Es wird wieder schnell wärmer, mein früher Start hat mich in den Morgentemperaturen schwer gefoppt. Kurz vor Mittag freue ich mich schon wieder über jeden Meter Schatten und kann die Salzkristalle in meinen Augenbrauen kratzen spüren, wenn ich mir den Schweiß von der Sirn wische. Im Wald, mitten auf einem schmalen Pfad durchs Unterholz, treffe ich schon wieder auf Schüler beim Orientierungslauf, diesmal allerdings etwas älter und deutlich orientierter als die Mädels von gestern. Als die erste Gruppe gerade vorbei ist, höre ich eines der Mädchen noch mit schwer britischem Englisch zu ihrer Freundin sagen "This guy rules us all.", was ich sofort als Kompliment verstehe und ja - ich erröte fast noch ein wenig mehr vor Rührung.
Wieder so ein Moment, in dem ein paar Worte einer fremden Person mir mehr bedeuten, als man im ersten Moment denken mag. Hinter diesem lockeren Satz steckt für mich, daß man auch von außen wahrnehmen kann, wie sehr ich in meinem Tun und Wandern aufgehe. Wie die lockere Geste des Autofahrers auf dem langen Anstieg im Massif Central (die ich immer noch wie einen Schatz mit mir rumtrage) ist auch dieser Satz eines Mädchens, mit dem ich so rein gar nix zu tun habe, eine Form der feststellenden Anerkennung, die man manchmal haben muß. Man wird dünnhäutig auf der Straße.
Ab Hagenthal beginnt der Murks. Durch glühende Dörfer, die nur leergekaufte Bäckereien parat haben. Durch Reihen von Neubauten, die sich immer weiter an die Neubauten des nächsten Dorfes heranarbeiten, um irgendwann mit ihm zu verschmelzen. Unten im Tal sieht man schon irgendeine Art von urbanem Knäuel, der Beginn von Schlafstädten und Einfamilienhausvororten. Basel, Mulhouse, Weil. Ich setze mir Musik in die Ohren, weil ich schon ahne, daß ich die kommenden Stunden sonst nicht anders ertragen könnte.
Durch endlose Gewerbegebiete. Vorbei an Plattenbauten. Reihenhäusern ohne Charme und mit viel zu hohen Hecken. Vorbei an gelangweilten Jugendlichen, die entweder zu frisiert sind, um ins Freibad nebenan zu gehen oder die heute schonmal da waren. Und der Asphalt glüht in der Sonne. Es gibt keine Wege oder Pfade mehr, nur noch Straßen. Transitland. Von der Wohnung in Frankreich rüber nach Basel zum Arbeiten. Zum Einkaufen nach Deutschland. Das Kreuz und Quer und Hin und Her dieser Region wirkt auf mich, der einer ganz klaren Linie folgt, die weit hinter dem Horizont begonnen hat und weit hinter dem Horizont enden wird, sehr befremdlich.
Dennoch: Als ich den Rhein erreiche, kann ich mir das Grinsen nicht aus dem Gesicht wischen. Plötzlich ist da Wind, der mich kühlt. Plötzlich ist da bummeln und schlendern. Plötzlich ist da ein "da drüben", das etwas verändern wird. Ich gehe über die Dreiländerbrücke rüber nach Deutschland und lasse Frankreich genauso still und unspektakulär hinter mir, wie es mich die ganzen Wochen hat durch sich durchgehen lassen. Au revoir, ma chère.
Deutschland ist ein Schlag ins Gesicht. Und ein Tritt in die Magengrube. Und ein höhnisches Lachen. Mein Einkaufscenter liegt direkt an der Rheinbrücke, schon davor tummeln sich tausende Kauftouristen. Als ich nach der obligatorischen Dusche (im gar nicht mal so schrägen Einkaufcenterhotel) ganz praktisch mit dem Hotelaufzug direkt in die Ladenstraße fahre, merke ich erstmal, wie schlimm das Center ist. Nur schlimme Läden, nur schlimme Leute. Noch nicht mal ein Buchladen, um mich mit Karten zu versorgen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf und laufe die zwei Kilometer rüber in den eigentlichen Ort Weil am Rhein, finde aber außer Dönerbuden und hunderten fader Cafés nur eine Eisdiele, die mich noch etwas aufzuheitern vermag. Der ganze Ort ein verzweifeltes Warten auf etwas, das vermutlich nie kommen wird. Das Thermometer an der Apotheke zeigt 30° an, genauso fühlt es sich auch an, und ich reiße mich zusammen und kaufe mir eine kurze Hose und ein Poloshirt, um dazuzugehören.
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