Montag, 16. April 2012

Tiefpunkt.

Sonntag, 15.04.2012
Espalion nach St-Geniez-d'Olt
7 h / 33 km

Es beginnt eigentlich alles ganz gut: Der schräge Polenmarkt vor meinem Zimmerfenster, der über Nacht aus dem Boden geschossen ist. Die Sonne, die sich schon am frühen Vormittag durch den Dunst drückt. Der kleine Laden, in dem ich das letzte Demi-Baguette für diesen Sonntag ergattere.

Aus Espalion raus, am Fluß entlang. In der ersten Stunde begegne ich 18 Pilgern. Das Highlight dabei: Die Familie mit drei Kindern so zwischen 8 und 12 Jahren, die zu fünft unterwegs sind. Die Kinder tragen keine Rucksäcke, Vati hat ein Wägelchen hinter sich geschnallt, darauf türmt sich das gesamte Familiengepäck. So kann ein lautes Ja! zur Familie auch aussehen.

In St-Come verlasse ich den Jakobsweg, diesmal wahrscheinlich endgültig. Stilecht ziehe ich auf der Landstraße weiter und stelle fest, daß meine Entzugserscheinungen in puncto motorisierte Fortbewegung immer schlimmer werden. Ich bin soweit, daß ich sehnsuchtsvoll der Gruppe Motocross-Fahrer hinterher schaue, obwohl ich eigentlich mit Motorrädern nix anfangen kann. Ich bin auch schon soweit, daß ich dem regionalen Lotus-Club bei seiner sonntäglichen Ausfahrt mit einem tiefen Seufzer zuwinke, als sie die Serpentinen raufbrettern, obwohl ich diese Karren irgendwie schon immer ein wenig lächerlich fand. Und ich bin schon lange soweit, daß ich mir an jeder dritten Straßenecke vorstelle, daß hier entspanntes Cruisen mit meinem Suburban bestimmt auch eine schöne Urlaubsbeschäftigung wäre.

Diese Gedanken sind wie eine Rampe. Eine Rampe, auf der ich hinab in die schlechten Gedanken rutsche. Manchmal gibt es solche Tage, heute habe ich wieder einen erwischt. Was mache ich hier eigentlich? Zuhause könnte ich so viele tolle Sachen machen! Wo will ich eigentlich hin? Wieso quäle ich mich eigentlich jeden Tag weiter? Was versuche ich hinter mir zu lassen? Wovor renne ich eigentlich weg? Fragen, auf die ich gerade an solchen Tagen nie eine Antwort finde.
Mein Reflex in solchen Momenten ist: Musik an, Kopfhörer rein und weiter. Leider macht es dieser Reflex meistens nur noch schlimmer. Egal, welche Musik ich heute auswähle, ich rutsche weiter hinab und als es kurz darauf auch leise zu regnen anfängt und bis zum Ende der Tour auch nicht mehr aufhören wird, ist der Tag perfekt. Die nächsten vier oder fünf Stunden lassen sich am besten mit dem Gefühl einer Busfahrt im Regen ohne Ton beschreiben. Immer entlang des Stausee-Ufers, der Weg geht mich, die Landschaft zieht an meinen Augenwinkeln vorbei und ich nehme nichts mehr wahr. Die Musik macht alles erst erträglich, aber auch porös und auswechselbar. Die wievielte Flußschleife ist das da gerade? Keine Ahnung. Egal. Immer geradeaus. Ich will nicht anhalten, ich will nichts trinken, ich will weiter. Ich will es hinter mich bringen.

Das nächste Dorf zieht mich zum Glück wieder aus diesem Sumpf heraus. Es gibt Idyllenschwerpunkte wie enge Gassen, eine alte Mühle, ängstliche Katzen und plötzlich kippt die Stimmung ins Gegenteil. Weiß der Geier warum, vielleicht ein Zeichen meiner einsetzenden Wunderlichkeit. Ich schmunzele über das verzweifelt-bittende Hinweisschild einen Kilometer weiter an der Hauptstraße "Besuchen sie Sainte-Eulalie-d'Olt!", gefolgt von der poussierenden Aufzählung, was der Ort alles zu bieten hat. Ich lache boshaft über das Feriendorf ein paar hundert Meter weiter, dessen Ferienbungalows aussehen wie eine Sträflingssiedlung aus den 50er Jahren. Ich freue mich in Saint-Geniez über das alte Ehepaar, das Hand in Hand durch die leeren verregneten Straßen spaziert. Ich registriere mit wohligem Stöhnen das Vorhandenseins sowohl eines ordentlichen Bäckers als auch eines kleinen Ladens gleich neben meiner Unterkunft.

Abends sitze ich im Hotel wieder als einziger Gast in einem sehr großen Speisesaal zusammen mit 80 leeren Plätzen und bestaune den Glanz der vergangenen Zeit, der hier eindeutig durch weht. Marmorboden, Stuck an der Decke, das hier war unbestritten mal das beste Haus am Platz. Wer was zu feiern hatte, ging ins "Hôtel de France". Viel ist nicht mehr davon übrig, aber trotzdem gewinnt mein Quartier für heute Abend all the awards. Kleinigkeiten wie ein freundliches Wort beim Abendessen, ein "grand lit" oder eine Mülltüte im Mülleimer reichen. Zufälligerweise heißen sowohl der schlimme Laden von gestern Abend als auch dieser hier beide "Hôtel de France", beide kosten 49 EUR die Nacht, beide befinden sich jeweils in einer traurigen Kleinststadt, aber was für Unterschiede. Während ich mein Bier austrinke, denke ich lange darüber nach, was den Unterschied zwischen Wohlfühlen und Verzweiflung in der Fremde ausmacht. Meine schlechten Gedanken von tagsüber sind verflogen, die komatöse Glühbirne in der Lampe neben meinem Bett macht mir zum Einschlafen noch ein bißchen Diskolicht.

4 Kommentare:

  1. Tja, für Dich 'Tiefpunkt, aber für mich, die Leserin, die noch nie so eine Wandererfahrung gemacht hat, ist dieser Eintrag ein Höhepunkt. Ich habe mich oft gefragt, was in dem Wanderer innen drin vorgeht, während er all diese Wege geht, und ich danke Dir für diesen Einblick.
    Ich wünsche Dir heute einen glücklichen Tag!

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  2. Ich lese ja nun schon einige Zeit mit, Otti gab mir einst den link. An dieser Stelle möchte ich etwas loswerden, eigentlich zwei Dinge. Zum Einen bewundere ich was du da machst und bin fest davon überzeugt, dass es richtig ist. Mach weiter. Zum Anderen möchte ich an ein TSS-Zitat erinnern, was zumindest mir in solchen Momenten mantramäßig durch den Kopf fährt. Rio Reiser sang einst: "Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.". Ich wünsche dir weiterhin eine gute Zeit!

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    1. Du hast vollkommen recht... Der nächste Tag war zwar auch irgendwie hart, aber in jeder Hinsicht erhebend. Ohne Tiefpunkte keine Höhepunkte. Ohne Mangel kein Genuß. Ohne Verzweiflung kein Glück. Trotzdem bleiben solche Tage hart, aber ich glaube, das muß so sein.
      Vielen Dank für deine Wünsche!

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  3. Tja, der "Kiliansweg" ist halt kein Ponyhof ... ;-)

    Vielen Dank für Deine tiefen Einblicke. Manchmal glaube ich für Sekundenbruchteile, Hermann Hesse zu lesen.

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