Mittwoch, 25. April 2012

Ab in die Top 5.

Mittwoch, 24.04.2012
Le Bez nach Valgorge
19 km / 6,5 h

Zum Aufwachen Sonne. Zumindest auf den ersten Blick. Auf dem Dach vor meinem Zimmerfenster liegt Schnee, im Tal dahinter schwere Wolken und der Wind pfeift kräftig. Ich bleibe mißtrauisch, denn optisch genauso ansprechend sah es auch gestern an meinem Pausentag aus. Drei Stunden Sonne, danach den ganzen Tag durchgehend saftigen Regen. Wehe, wenn sich das heute wiederholt.

Der Tag ist eigentlich viel zu kurz, ich hatte gestern schon fast überlegt, zwei Touren zusammenzufassen, aber nach einer halben Stunde Grübeln kam der erlösende Gedanke: "Wozu die Hektik?". Nachträglich bin ich froh drüber: Es wird ein spektakulärer Tag werden. Hoch über den Schluchten von Borne, durch verfallene Bergdörfer, an mittelalterlichen Festungsanlagen vorbei, liebliche Wege runter ins Tal, Rückkehr der Wärme und des Grüns und - Restaurantballett. Aber der Reihe nach...

Beim Loslaufen verstehe ich erstmal, wieso vorgestern bei meiner Ankunft ein alter Mann mit Anzug jovial auf den Parkplatz gepisst hat: Der Berggasthof steht auf der Wasserscheide zwischen Atlantik und Mittelmeer. Leicht beruhigt kippe ich in Richtung Mittelmeer, nehme erstmal den falschen Weg und schleiche mich 10 Minuten später wieder beschämt an den Fenstern der Auberge du Bez vorbei.

Oben am Hang entlang, hoch über den Schluchten der Borne, die unten deutlich rauscht und sich ab und zu mit tiefgrünem Wasser zwischen den Felsen zeigt. In der Ferne kann ich weiter hinten im Tal den Weg erkennen, den ich später entlang eiern werde. Steil bergab vorbei am Bergdorf Les Chazalettes, von dem nur ein einziges bewohntes Haus übrig geblieben ist. Der Rest steht leer oder ist schon vor Jahrzehnten eingestürzt. Nur eine alte Frau mit Hund scheint hier noch durchzuhalten, im Sommer werden wohl zwei der Häuser noch als Feriendomizil genutzt. Der Weg hält sich an den uralten Verlauf des Bergpfades, mit dem die Bewohner des Dorfes ihre Häuser früher vom Tal und dessen Hauptort Borne aus erreichen konnten. Ein schmales, in Serpentinen gelegtes Steinband, aufgeschichtet in kleine Terrassen, mit Begrenzungsmauern und an vielen Stellen großen Steinplatten, die ein komfortables Gehen ermöglichen. Was muß das für eine unendliche Arbeit gewesen sein, diesen kilometerlangen Weg zu bauen, zu verbessern, zu erhalten. Tonnenweise Steine zu schleppen, sie kunstvoll zu Mauern zu stapeln, dem steilen Hang einige ebene Quadratmeter abringend.


 
Eine gute Stunde später erreiche ich den Ausgang unterhalb von Borne, der Hauptort des Tals ist gerade mal 40 Einwohner stark. Als ich locker in den Weg runter zur Brücke einbiege, falle ich fast rückwärts vom Stuhl, als ich um die Kurve kommt und die Rückseite des riesigen Felsens in der Talmitte sehe. Ein mittelalterlicher Wehrturm, der die Brücke über die Borne bewacht hat. Unten am Fluß entdecke ich auch noch die Ruinen von weiteren Befestigungen, unter anderem des Torhauses. Bitter enttäuscht, daß hier kein Historienfreund eine ausführliche Informationstafel aufgestellt hat, mache ich mich an den Aufstieg zum Croix de Toutes Aures.


Schnell wird es ungemütlich. Wind, Regen und ein bißchen Schnee kommen von Westen in das Tal und pfeifen über den Paß. Oben angekommen schenke ich mir die Verschnaufpause und warte lieber noch ein paar Minuten, bis ich auf der anderen Seite im Windschatten bin. Hinter dem nächsten Dorf kriege ich dann das Tal-Panorama ins Gesicht geschmettert. Links Berge, rechts Berge, in der Mitte ein Tal, das in der Ferne in sanften Hügeln ausläuft und schonmal erahnen läßt, daß da hinten das Rhône-Tal liegt.


Überall Ginsterwiesen, von denen schon einige vorsichtig leuchtend gelb blühen. Im Juni zur Hauptblütezeit müssen alle diese Berghänge in knallgelb erstrahlen und das ganze Tal duften. Das tut es bisher eindeutig - nicht.

Ich mache mich an den Abstieg, der mich in sanften Schleifen über Kilometer entlang des Hanges langsam und stetig nach unten bringt. Wieder über Steinwege, die vor vielen Jahren gebaut wurden, als es noch keine Straßen gab und diese Wege die einzigen Verbindungen zu den Bergdörfern waren. Mit Sicht auf das Tal und die Berge gegenüber ziehen die Stunden und Kilometer vorbei und nur die französische Armee, die in dieser Ecke Luftkampfübungen mit ihren dreieckigen Kampfjets durchführt, die immer wieder fauchend über Berge und Täler hinweghuschen, trübt die Idylle. Trotzdem notiere ich mir im Laufe der Tour diesen Tag auf der schlampig geführten Liste der Top 5 meiner bisher schönsten Wandertouren.

Je tiefer ich komme, umso mehr kehrt der Frühling zurück. Es wird immer wärmer, bald sehe ich die ersten Blätter an den Bäumen, knospende Zweige, überhaupt ändert sich das "grau-vor-braun" der Höhen zu einer Farbpalette, die bei blaugrün beginnt und erst bei gelbgrün wieder aufhört. Unten angekommen, entledige ich mich erstmal meiner Jacke und wandere - ohne beißenden Wind und Regen - glücklich am Fluß entlang die letzten Kilometer nach Valgorge. In den Dörfern blüht der Flieder und ich höre sogar schon ein paar Grillen zirpen. Die Rentner werkeln in den Gärten und die Hunde liegen faul vor den Garagen. Der Friseur hat geschlossen, dafür sitzen die drei Stammkundinnen auf der Bank gegenüber dem Rathaus und sind ganz vertieft in ihr Gespräch, während ich vorbeiziehe.

Als ich nach Valgorge komme, bin ich sehr neugierig auf das Dorfhotel. Es hat eine tolle Website und auch die Wirtin von der Auberge du Bez hat es mir wärmstens empfohlen. Mich erwartet: Ein rechtwinkliger 60er-Jahre-Betonkasten. Ich atme tief durch, gehe rein, werde freundlich empfangen und ich verliebe mich sofort in die gute alte Telefonkabine hinter der Rezeption. Und in die graue Retro-Tapete im Zimmer. Und in die Aussicht vom Balkon. Und überhaupt. Beim Abendessen merke ich, daß sie es hier im Restaurant und überhaupt wirklich ernst meinen. Keine Spur von verzweifeltem Abgleiten in schlechtere Zeiten: Die Wirtin platziert die Gäste (von denen immerhin außer mir noch 6 weitere an den Tischen verteilt sind; für einen Dienstagabend am Ende der Welt ein sehr gutes Ergebnis) mit großer Geste und vor allem gekonnt so, daß niemand dem anderen ins Gesicht starrt. Dann beginnt das Reigen der Merkwürdigkeiten. Jetzt verstehe ich, warum ich bei der Ankunft nochmal meinen Vor- und Nachnamen auf einen Zettel schreiben sollte, denn ab sofort wird's persönlich.

Ein handschriftlich aufgeschriebener und mit Namen versehener Menüvorschlag liegt auf meinem Tisch und wird erstmal in Ruhe durchgesprochen. Es folgt der Auftritt des Kellners. In einem Affenzahn wetzt er durch den Raum, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt. Aperitif? Wein? Wasser? Das alles mit einer Beflissenheit und Ernsthaftigkeit, die auch in ein dreimal so teures Lokal gepaßt hätte, die aber hier in keinster Weise fehl am Platz ist. Denn alles ist genau choreographiert und alles stimmt. Zuerst kommen Wasser und Brot. Dann der Aperitif. Die Vorspeise wird erst serviert, als ich mit dem Apertif fertig bin. Auch der Wein kommt erst dann auf den Tisch. Alles genau austariert. Die Wartezeiten zwischen den Gängen sind genau richtig, nicht zu hektisch, nicht zu lang. Mit wachem Blick steht der Kellner in der Schwingtür zur Küche und überblickt unaufdringlich den Raum. Wenn er etwas entdeckt hat, um das es sich zu kümmern gilt, schießt er los. Die ersten zwei Meter nimmt er noch Anlauf, danach hat er aber seine Reisefluggeschwindigkeit erreicht und saust durch den Speisesaal. Bevor irgendwas auf den Tisch kommt, wird das Besteck nochmal schnell poliert. Natürlich ist immer ausreichend Brot und Wasser da. Und es wird einfach alles richtig gemacht.

Mein Menü für diesen Abend:
Aperitif:
Edelkastanien-Likör mit Champagner

Vorspeise: 
Linsen-Cappuchino mit geräuchtem Lachs und Sauerrahm

Hauptgang: 
Filet Mignon vom Lamm mit Artischocken und einer Art Katroffel-Rösti (nur besser!)

(Käseplatte habe ich wie immer ausfallen lassen...)

Dessert: 
Vanille- und Pfirsicheis an Edelkastanienmus mit Honigsauce


Und wieder ein Abend, an dem ich über die Preisgestaltung nur staunen kann. Zimmerpreis ohne Frühstück: 44 EUR. Als Halbpensionstarif gibt es Zimmer, Frühstück und oben stehendes Abendessen (ohne Getränke) für 58 EUR. Das ist ein Preis-/Leistungsverhältnis, an dem gemessen die meisten anderen Läden scheitern. Punkt. Wins all the awards: Hotel Le Tanargue, Valgorge.

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