Freitag, 6. April 2012

Einmarsch in die Postkartenidylle.

Mittwoch, 04.04.2012
Saint Nauphary nach Bruniquel
7 h / 31 km

Wieder hat es über Nacht geregnet. Pünktlich zum Frühstück erwacht das Interesse meines Gastgebers David an meinem Tun und Lassen, er holt flugs einige Karten hervor und wir brüten ein wenig über Wege in der Umgebung. Zum Abschied lehne ich noch schnell einen Schwall spontaner Angebote auf ein Sandwiches zum Mitnehmen, Taschentücher (?) usw. ab, David besteht aber darauf, mir für den Notfall seine Handynummer mitzugeben. Kein Problem. Mit guten Wünschen verlasse ich die große leere Domaine.

Unten im Dorfsupermarkt kaufe ich Orangina, KitKat und - ich glaube es selber kaum - Taschentücher. Auf den 500m bis dahin kam mir in den Sinn, daß ich höchstens noch 1/2 Päckchen übrig habe.

Es wird ein trüber Straßentag. Der Weg bis Bruniquel ist weit, die Karte gibt keine rechte Alternative zu den Landstraßen her, also füge ich mich meinem Schicksal und bin aus lauter Vernunft auch extra früh aufgebrochen. Die D8 verläuft zwar oben in den Hügeln, wo weniger Verkehr ist, aber der weniger Verkehr ist schnell. Immerhin sind die Seitenstreifen breit genug, um einigermaßen sicher voranzukommen. Nach einer halben Stunde beginnt der Regen, ich ziehe meine Montur an, packe mir bei der Gelegenheit auch gleich Musik auf die Ohren und ziehe weiter.

Irgendwo kurz vor dem nächsten Abzweig bremst ein Kleintransporter und ein junger Typ mit Kapuzenpulli fragt, ob er mich mitnehmen soll. Ich lehne dankend ab, geht schon, ich gehe gerne zu Fuß. Er grinst, antwortet "Hast ja Recht..." und fährt weiter. Jetzt muß ich auch grinsen, trotz Regen.

Der Regen hält nur eine knappe Stunde, dann wird's wieder trocken. Weiter auf der Straße vorbei an verrottenden Holzbooten im Wald, halbfertigen Einfamilienhäusern, und Bauernhöfen. Die zwei Regennächte haben ausgereicht, um sämtliche Grüntöne zu vervielfachen. Und noch etwas ist anders: Es gibt wieder mehr Bäume und kleine Waldstücke. Noch geht zwar mein Weg an ihnen vorbei, aber spätestens morgen wird es wieder richtige Waldstücke zum Durchwandern geben.

Ein rastloser Tag, alles naß, alles kalt, ich friere zum ersten Mal und frage mich, warum ich heute eigentlich eine kurze Hose angezogen habe. An ein Trafohäuschen gelehnt esse ich im Windschatten ein paar Kekse und ziehe fröstelnd weiter. Laufen hält warm.

Später am Nachmittag laufe ich kurz vor Puygaillard endlich wieder für eine halbe Stunde durch richtigen Wald. Verkrüppeltes junges Zeug zwar, noch frühlingskahl, aber immerhin. Am Waldrand liegt tatsächlich ein Holzstapel und ich mache dort natürlich aus Prinzip eine verspätete Mittagspause, obwohl es gerade regnet. Weil man hier sitzen kann. Weil ich hier sitzen will. In der nächsten Stunde am Straßenrand lese ich ein bißchen, höre dem Regen zu, probiere den wilden Schnittlauch vom Waldrand, zähle genau 1 vorbeifahrendes Auto und obwohl das Wetter gar nicht danach aussieht, finde ich den Tag wunderbar. Über allem liegt eine Stille wie in einem Vakuum. Jeder bewegt sich in seinem kleinen Kreis. Als ich wieder aufbreche, hält ein klassisches Jägerauto, mein Reflexzentrum spannt sich schon wieder an, aber der gute Mann will nur wissen, ob ich seinen verlorengegangenen Jagdhund gesehen hätte.

Ein paar Kilometer weiter wurschelt der Bauer bei seinen Kühen auf der Weide, daneben liegt sein Hund im Feld. Als ich vorbeiziehe, schleicht sich das wachsame Vieh langsam ran, will aber nur kuscheln. Und schon wieder habe ich ein Nachlauferle im Schlepptau. Ein paar Minuten später überholt uns der Bauer von eben mit seinem Peugeot und biegt links zu seinem Hof ab, ich erwarte eigentlich, daß der noch relativ junge Hund dasselbe tut -- nüscht. Mit gut 100 - 200m Vorsprung geht er weiter vor mir voraus die Straße entlang und checkt immer wieder, ob ich auch mitkomme. Cleveres Kerlchen, geht brav am Straßenrand, auch mit Autos kommt er gut klar und zieht sich jedesmal in den Straßengraben zurück. Ich spüre schon wieder die Risse in meinem romantischen Tierherz, als wir 2 km weiter die nächste große Landstraße überqueren und ich weiß, daß es langsam Zeit ist, unangenehme Dinge zu tun. Als ich ein paar Einschüchtungsgesten aufsetze, legt sich der Kerl sofort ganz flach ins Gras, guckt mit großen Augen ängstlich nach oben und bleibt geduckt liegen, als ich weiterziehe. Als ich mich kurz vor der Kurve nochmal verstohlen umdrehe, guckt er immer noch. Ich reiße mich zusammen und mache mich aus dem Staub. Bleib liegen, so ein Wanderer ist nichts für dich, mein Kleiner.

Ein Teil von mir wünscht sich natürlich während der nächsten Kilometer, daß der Hund plötzlich wieder neben mir auftaucht und ich diesen Tag mit dem Blog-Eintrag in Richtung "Reise zu Ende, ich komme nach Hause, ich hab jetzt nen Hund." beende, aber bei allen Beteiligten siegt an allen Fronten die Vernunft. Erst eine halbe Stunde später dämmert es mir, daß das vielleicht der verloren gegangene Hund des Jägers sein könnte, auch wenn das eigentlich nicht so ganz passt.

Schlußspurt nach Bruniquel, die Regenwolken hängen schon wieder tief. Alle Franzosen hier in der Umgebung haben bei der Erwähnung von Bruniquel ganz verzückte Augen bekommen, natürlich ist das Kaff auch als eines der schönsten Dörfer Frankreichs zertifiziert und so bin ich sehr gespannt, als ich den Postkartenaussicht-Pfad den Berg hinunter stolpere. Nett, aus der Entfernung. Muß touristisch sein, ich sehe schon Wohnmobile und einen Großparkplatz, der im Sommer bestimmt bumsvoll ist.

Aber je näher ich komme, umso mehr raubt mir dieses Dorf den Atem. Hier laufen drei Täler zusammen, auf einem Bergsporn in der Mitte sitzt das Dorf, gekrönt durch zwei kleine Châteaux. Mein Gastgeber für heute Abend hat nen Zettel an der Tür gelassen, daß er leider später kommt, also habe ich mir gegenüber eine gute Entschuldigung, nochmal gefühlte 200 Fotos vom Dorf zu machen. Ein mittelalterlicher Traum, jede Gasse, jedes Haus, jedes Fenster und jede Tür, jedes Detail könnte man stundenlang bestaunen. Der komplette Dorfkern ist bis auf kleinere Modernisierungen so erhalten, wie ich mir das 16./17. Jahrhundert eben so vorstelle. Man könnte hier sicherlich zwei volle Tage einfach nur gucken, ich beschränke mich auf zwei Stunden. Im Sommer kann man sich hier wahrscheinlich mit 800 Touristen prügeln, deswegen sind wohl auch alle Fenster mit schweren Gardinen verhängt und das halbe Dorf steht - wie auch das restliche Frankreich - zum Verkauf. Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob ich wirklich gerne hier wohnen würde, wenn ständig irgendwer von romantisierten Lautäußerungen begleitet Fotos durch mein Küchenfenster macht und ich meine täglichen Einkäufe 15 min bergauf durchs größtenteils autofreie Dorf schleppen muß.Aber die Optik kann was.




Überfahren von soviel Historie klopfe ich bei meinem Gastgeber Marc, der - inzwischen zurück - mit eleganter Katze in einem der alten Häuser wohnt. Innen sehr biologisch modern, mit den Apple-Utensilien des weitgereisten Neuzeitlers ausgestattet. Die Dusche bleibt zwar nach einem sehr kurzen und sehr heißen Zucken kalt, aber das ist mir heute wurscht.

Nachdem wir gut eine Stunde zusammen vergeblich versucht haben, meinen Rechner ans Netz zu kriegen, sitze ich noch ein bißchen im Schaukelstuhl am Fenster, schaue dem Sonnenuntergang zu, der die Wolken über dem Tal vertrieben hat, freue mich über die kühle Abendluft und bin stolz auf meine Füße, die heute den ersten langen Tag ohne Pflaster gut überstanden haben. Schon früh werfe ich mich in das riesige Bett unter die riesige Decke. Kein Abendessen heute, keine Augen haben genug Futter gehabt. 

Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen freut sich auf die Touren der nächsten Tage entlang der Schluchten des Aveyron, draußen fährt irgendwo weiter weg noch ein Auto vorbei, dann ist es wieder still.


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