Dienstag, 3. April 2012

Frankreich kann auch anders.

Dienstag, 03.04.2012
Savènes nach Saint Nauphary
7h / 34 km

Als ich meinen extra früh gestellten Wecker aus der Ferne höre, merke ich, daß die Nacht viel zu kurz war. Frühes Frühstück, früher Aufbruch, heute wird ein langer Tag. Vorher gehen die Herrlichkeiten vom Vorabend weiter: Zum ersten Mal 2 Croissants für mich auf dem Tisch. Selbstgebackenes Brot. Zum ersten Mal kein Beuteltee, sondern 7 Sorten Tee in schönen Metalldosen zur Auswahl, mit Teeherz und passendem kleinen Schälchen für das tropfende Sieb nach dem Ziehen. Kurz huscht die gute alte Frau Wehmut durch das Frühstückszimmer, als ich darüber nachdenke, wie schwer es ist, solche Häuser und solche schönen Momente für ein paar Stunden Straßenstaub und für das Weiter zu verlassen.

Es hat geregnet, draußen liegen schwere Pfützen auf der Straße. Verdun verzeiht mir nicht, daß ich es links liegen lasse. Die biestige Kassiererin im Super U, die mich auffordert, beim nächsten Mal den Rucksack neben der Kasse abzustellen und das nicht freundlich meint. Die Autofahrerin, die genau vor mir auf dem Zebrastreifen einparkt, obwohl ich gerade die Straße überqueren will. Die vielbefahrene enge Brücke über die Garonne, die ich wie ein ängstlicher Hase überquere, weil nicht mal zwei Autos nebeneinander passen und für einen Gehweg sowieso kein Platz war. Der Verkehr auf der verfluchten D6, die auf Kilometer wieder nur schnurgeradeaus geht und doch ohne Alternative ist. Frankreich hat auf häßlich geschaltet. Zugemauerte Fenster, leere Türen, aufgegebene Leben. Da war kein Glanz, der vergangen sein könnte, da war immer nur schon der verzweifelte Versuch, irgendwie zu überleben. An der D6. Die ehemalige Spezialwerkstatt für deutsche Autos. Die Bar, die trotzdem jeden Tag die Stühle rausstellt. Die Schutthaufen und Müllhalden in jeder dunklen Ecke, um die sich niemand mehr kümmert. Das ist der Gegenpart zur ländlichen Bauernidylle, nur eine Stunde Fußmarsch weiter.

Transitland. Da ist das Wort wieder. Alles will von irgendwoher nach irgendwoanders, hier fährt man nur durch, hier will keiner bleiben. Der flüchtige Blick des Beifahrers aus dem Autofenster bleibt ein Warten auf das Ankommen. Hier? Besser nicht...



 

Erst als ich hinter Dieupentale das erste Mal abbiege, wird es besser. Mit dem Verkehr verschwinden die schlechten Gedanken, die Häßlichkeit allerdings bleibt. Endlose Neubaugebiete gehen allmählich über in Siedlungen, die schon lange verlassen wurden und von Müll und Gestrüpp verschluckt wurden. Ein abgebranntes Haus, dessen Bewohner alle noch geretteten Dinge auf der Veranda und im Garten gestapelt haben, dann aber doch die Aussichtslosigkeit ihres Tuns eingesehen haben. Die Domaine Périgal, die sich über Kilometer bombenfest eingezäunt hat, zwei Meter hoher Wildzaun, unten nochmal Kaninchendraht und - damit auch ja nichts unten durchkommt - noch Bodensicherungen aus Beton. Eingezäunt haben sie eine schier endlose Weite von Ödland, grau und struppig. Warum sie das getan haben, bleibt mir schleierhaft. Hier wollen sicher noch nicht mal Schafe grasen.

Auf der Autobahnbrücke mache ich Rast, leere die Steine aus meinen Schuhen und esse ein paar Kekse. Hilft aber nicht gegen die Trostlosigkeit des bisherigen Tages. Die Landschaft hier ist nicht mehr lieblich oder hügelig, hier fühlt es sich an wie an den ausfransenden Zipfeln von Brandenburg. Es ist flach, grau und öde. Als ich wieder aufbreche, fängt es an zu regnen und es passt absolut ins Bild. Ich drücke mir Musik in die Ohren und ziehe die Scheuklappen hoch.

Der Dorfplatz des nächstes Dorfes ist vollkommen übermöbliert. Bänke überall. Geländer. Mini-Parkanlagen. Zebrastreifen. Dorfbegegnungsplätze. Es gibt sogar ein Dorfbistro, in dem Licht brennt. All das wirkt ungeheuer angestrengt, aber vor allem verzweifelt. Außerdem bin ich noch mißtrauisch nach den schlechten Bildern der ersten Kilometer. Schnell um die Ecke und auf die Landstraße, aber schon nach einer halben Stunde wird meine Hochmütigkeit bestraft. Wie konnte ich nur an den zahlreichen Bänken und Sitzmöbeln von Campsas vorbeigehen..? Es sollten die Einzigen für die nächsten zwei Stunden bleiben. Ich probiere es mit einer kleinen Pause auf einer steinernen Brückenbrüstung, aber nach dem ersten LKW kurz vor der Nasenspitze war das kleine Glück über diesen ergatterten Platz auch vorbei. Überall Felder, Rebstöcke, Straßen, Böschungen. Wer nicht im Dreck oder im nassen Gras sitzen will, sucht vergeblich.

Hinter Reynies die letzte Steigung für heute. Es war der Tag der Überquerungen: Quer über die namensgebenden Flüsse Tarn und Garonne des hiesigen Departments, quer über den Kanal "der zwei Meere", quer über die Autobahn. Nochmal ein paar Kilometer Hügelkette, dann stehe ich in Saint Nauphary auf der Dorfstraße. Ich hatte ein verschlafenes Nest erwartet, aber das Dorf hat sich rausgeputzt. Restaurant, Snackbar, Bankfiliale, Apotheke, Tabakladen, alles da. Neben der Kirche steht ein Pizzawägelchen auf dem Dorfplatz und wirbt mit Pizza frisch vom Holzfeuer. Ein paar Meter weiter gibt es sogar noch einen Dorfsupermarkt. Beeindruckt von soviel Leben biege ich in die endlose lange Auffahrt zur Domaine de Roussillon ein, mein Quartier für heute Abend. Ich klingele und klopfe und suche, aber es macht niemand auf. Ich brauche nicht lange, um diesen Wink des Schicksals zu verstehen, werfe den Rucksack ab, lasse ihn neben der Haustür stehen und gehe wieder runter ins Dorf zum - aus der Nähe betrachtet - etwas gespenstischen Pizzamann, der sich ständig auf die Finger pustet. Ob wegen der Hitze des Ofens oder wegen des imaginären Mehls an den Fingern, kann ich nicht ergründen, ist auch egal, denn er versteht was von seinem Handwerk. Und er ist schnell. Er erkennt den ausgehungerten Wanderer, schiebt meine Bestellung mal eben dazwischen und nur ein paar Minuten später mampfe ich glücklich eine verdammt heiße und verdammt gute Pizza. Auf dem Weg zurück zur Domaine kaufe ich mir im Supermarkt ein Gute-Nacht-Bier bei einer freundlichen Verkäuferin und beziehe ein Zimmer in einem sehr großen und sehr leeren Haus.

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