Donnerstag, 12. April 2012

Pilgerzähler: Neunzehn und steigend.

Donnerstag, 12.04.2012
Decazeville - Conques
6 h / 23 km

Das alte Spiel, an allen Fronten. Abends bin ich zärtlich und vergebe meinem Hotel gerne den ein oder anderen Murks, morgens ist das Licht der Realität wieder da und man sieht leider nur zu deutlich, was man sich da ins Bett bzw. in wessen Bett man sich da... Whatever. Beim Frühstück erlebe ich den bisherigen Tiefpunkt in der Disziplin "Arschigkeit": Ich komme in den Frühstücksraum (= die Bar, nur mit angeschaltetem Putzlicht), da steht noch genau ein Tisch mit Tassen und Teller für zwei, wo ich mich natürlich hinsetze, um zu frühstücken. Als der Kollege mich die obligatorische "Kaffee oder Tee"-Frage gefragt hat, macht er sich doch tatsächlich daran, direkt vor meiner Nase von den zwei Croissants und zwei Baguette-Stückchen jeweils eines aus dem Brotkorb auf meinem Tisch rauszunehmen. Ist ja für zwei gedeckt, also doppelte Menge, ist ja nur ein Frühstücksgast, kriegt er also auch nur die Hälfte. Das Croissant hat er schon in den Pfoten, aber bevor er sich auch noch das Baguette schnappt, mache ich ihm klar, daß ich das ganz gerne essen würde. Entsprechend saftig beobachtet er mich von seinem Bunkerplatz hinter dem Tresen und ich lasse mir boshaft extra viel Zeit und krümele extra viel auf den Boden.

Ich schiebe alles auf Decazeville, das am Vormittag noch komatöser aussieht als gestern, weil jetzt plötzlich irgendwie auch alle Läden zu haben und ziehe schnell in Richtung Ortsausgang. Bei der ersten Abzweigung lande ich sofort auf dem Jakobsweg und während des folgenden Aufstiegs kommen mir mal gleich insgesamt sieben Pilger entgegen. Natürlich hat es inzwischen wieder angefangen zu regnen und man kann die Herrschaften alle schön an ihren Ganzkörper-Regenponchos in Rot oder Olivgrün erkennen, unten ragen immer zwei Wanderstöcke raus, die beim Gehen ganz wundervoll in den Ponchos rascheln. Wie reichhaltig plötzlich die Straßenmöblierung ausfällt. Brunnen mit Trinkwasser an allen Ecken, Picknicktische, Bänke, einladend offen stehende Scheunen am Wegesrand... Ich wühle mich vielen tapferen Bonjours durch den Gegenstrom der Pilger und bekomme nach Nummer 11 und 12 langsam ins Grübeln, warum die alle so glücklich gucken. Hoffentlich schaue ich nicht auch so beim Laufen. (Später werde ich feststellen dürfen, daß irgendeiner der 19 Pilger ständig Herzen in den Matsch malt. Vielleicht lasse ich mir da auch mal was Schönes einfallen...)

Oben auf der Hügelkette eröffnen sich - solange es die Wolken eben zulassen - weite Aussichten tief ins Land, in alle Richtungen, den ganzen Tag über läßt der Horizont unter den Wolken immer wieder eine kleine Vorstellung dessen aufblitzen, was einen in der Ferne erwarten könnte. Mein Blick hängt bang am Nordosten, ich will Berge sehen, muß aber noch ein oder zwei Tage darauf warten. Ich folge knallhart dem Jakobsweg (in die entgegengesetzte Richtung) und bin fortan erstmal komplett weg von allen Straßen und Bauernsträßlein. Kleine schlammige Wege, auf denen man sich auch mit beschlagener Brille anhand der Pilger-Fußspuren im Matsch sehr gut von der Richtigkeit der Richtung überzeugen kann.

Der Weg ist knallhart quer zu den Hügelketten markiert, der Tag ist also ein einziges Rauf und Runter. Macht nix, auf meinem "Normalweg" über die kleinen Landstraßen wäre ich wahrscheinlich sowieso viel zu früh angekommen. Kurz hinter Prayssac nehme ich mitten auf dem Feld an einer kleinen telefonischen Meinungsbefragung im Auftrag der Agentur für Arbeit teil, treffe sofort danach die nächsten Pilger, die standfest behaupten, sie hätten heute sonst noch keine anderen Pilger getroffen. Na, dann wartet mal ab... Wahrscheinlich drücken sie sich heute Abend alle - sich wissend und trotzdem gegenseitig ignorierend - durch die bröckelnden Straßen und Hotels von Decazeville und suchen verzweifelt nach der Romantik einer Pilgerreise.


Pilger Nummer 15 wandert in kurzen Hosen und entpuppt sich - natürlich - als Schwabe. Ein paar nette Worte reichen und jeder zuckelt in seine Richtung weiter. Die einzige Pilgerin, mit der ich länger ins Gespräch komme, ist Nummer 19, ist eine ältere Dame, die mir auf einer langen Steigung alleine entgegenkommt. Ich hatte so spät am Nachmittag gar keinen Gegenverkehr mehr vermutet, denn bis Decazeville sind es von hier aus sicherlich noch 4 Stunden. Aber jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.

Kurz vor dem Abstieg nach Conques wird das ständige klein-klein-mal-ein-bißchen des Regens innerhalb von ein paar Minuten wieder eine amtliche Dusche, die ich - nachdem ich den Kragen hochgeklappt und die Kapuze fester gezogen habe - schicksalsergeben als die tägliche Nachmittagsdusche akzeptiere, die dafür sorgt, daß ich wenigstens anständig naß ankomme, wenn ich schon über den Tag relativ trocken geblieben bin. Der Regen erreicht das Niveau, auf dem der anständige Wanderer hektisch nach Unterschlupf suchend um sich blickt und ich erinnere mich dunkel, auf der Karte irgendwo beim Abstieg eine Kapelle gesehen zu haben. Bingo. Noch zwei Wegbiegungen und ich bin im Trockenen. In der Kapelle warten zwei Omis mit Enkeln darauf, daß sie zur nächsten Pizzeria weitergehen können (das mußten sie den Jungs nämlich versprechen, ansonsten wären sie nicht zum Wandern mitgekommen) und nachdem ich alle Fragezeichen, wieso ich "aus der falschen Richtung komme" aufgelöst habe, witzeln wir ein bißchen über Pilgerfleiß und Pilgerernst.

Über eine uralte Brücke nach Conques, das schon wieder so verflucht historisch-malerisch anfängt, daß ich sofort versucht bin, wieder Fotos zu machen. Nachdem ich aber mehrere Minuten lang abwechselnd meine Brille und das Objektiv geputzt habe, weil immer eines von beiden beschlagen war, gebe ich es auf und verschiebe die Fotos auf morgen. Wenn überhaupt.

Das Hotel ist auch für eine abendliche Ankunft im Regen arg, neben die Brandlöcher in der Bettdecke reihen sich die Spinnweben an der Wand, der Kronkorken von meinem Vorgänger neben dem Schrank und der atemberaubende Geruch von jahrealtem Staub, der beim Anwerfen der Elektroheizung verbrennt. Vom Rest ganz zu schweigen. Dennoch: eine Badewanne, ein warmes Essen und ein Bier zum Nachtisch stellen sowas wie Zufriedenheit her, die allerdings nicht soweit reicht, als daß ich heute Nacht auf die Oropax verzichten würde, denn jede Klospülung in den Stockwerken über mir ergibt einen lauten rauschenden und plumpsenden Schwall in der Wand neben meinem Bett.

1 Kommentar:

  1. Ich weiß nicht, ob Du Kommentare liest, aber ich habe einen, eine Frage an und für Dich, über die Du vielleicht nachdenken magst oder nicht magst, während Du da so in Jakobsweg-Gegenrichtung wanderst:
    Wieso verachtest Du eigentlich die Pilger so, wieso denkst Du,dass der Wanderer in Gegenrichtung und auf 'Normalweg' besser ist als sie, und wieso reizt Dich der Jakobsweg so sehr???

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