Sonntag, 22. April 2012

Stille Cevennen.

Freitag, 20.04.2012
Mende nach Le Bleymard
9 h / 37 km

Grummelnd stampfe ich die Treppen runter zur Rezeption. Zu allem Murks von gestern Abend hat das Zimmermädchen - worauf ich besonders allergisch bin - die Nerven gehabt, schon um kurz nach Neun zu klopfen, eine halbe Sekunde zu warten und dann erstmal zu probieren, ob die Tür offen ist. Ich mache ihr in meinem morgendlichen Pidgin-Französisch klar, daß das vielleicht eine etwas zu frühe/schnelle Aktion war. Dem Kollegen an der Rezeption sind meine Reklamationen sichtlich peinlich. Als er am Ende den Zimmerpreis von 62 EUR auf 31 EUR halbiert, bin ich zufrieden. Das Frühstücksbuffet für 12 EUR lasse ich trotzdem aus Prinzip links liegen.

Schnell zum Bäcker. Keine Törtchen, aber Mini-Quiches. Schnell raus aus Mende. Jaja, Dom gesehen und abgehakt. Neidisch am lokalen Wahlkampfbüro von Sarkozy mit tonnenweise "La France forte"-Postern vorbeigegangen. Schnell noch ein Croissant auf der Bank vertilgt, während ich dem Postboten bei der Arbeit zusehe. Dreihundert Meter Aufstieg zum Frühstück ohne Aufwärmen. Oben auf dem Hochplateau liegt der - harhar - Flugplatz von Mende. Eine abenteuerliche Asphaltpiste, die mit einem Ende direkt am Abgrund endet. Wahrscheinlich nix für schwache Nerven.

Danach wird alles schön. Wieder stundenlang auf einem stillen Waldweg über die Hochfläche, links Aussicht, rechts Aussicht. Kein Mensch zu sehen, nur in den tief eingeschnittenen Tälern sieht man die Umrisse von ein paar Dörfern. Unterwegs Aussichten auf Wald und Felder wie zuhause. An einem frisch geschlagenen Holzstapel saue ich mir glücklich die Finger mit Harz ein und rieche dafür die nächste Stunde nach Wald.



Es bleibt trocken und windig, obwohl ich aus Reflex immer wieder meine Jacke anziehe, weil ich jeden Moment mit dem großen Wolkenbruch rechne. Es ist wärmer geworden in den letzten Tagen, statt der 2-4° Anfang der Woche im Aubrac hat's jetzt um die 12-14°, ich begegne erst auf ca. 1.200m wieder den ersten Rest-Schneefetzen. Am Col de la Loupiere ist mein schönerWaldweg zu Ende und ein markierter Wanderweg übernimmt. Die erste halbe Stunde enttäuscht er kurz mit einem schwer von Harvestern zerfurchten Matschpfad, danach wird's lieblich. Mit tausend Kurven und Serpentinen immer entlang der Hänge, auf windigen Pfaden zwischen den Feldern hindurch, auf verwunschenen Spuren an verfallenen Mühlen im Wald vorbei, durch verschlafene Bauernhöfe, die am steilen Hang kleben. Durch verlassene Dörfer, in denen schon lange niemand mehr wohnt und wo das Klebeband, mit dem die Post den Dorfbriefkasten zugeklebt hat, schon seit Jahren lose im Wind flattert. Hinter Auriac erwische ich ein Reh äsend auf dem Weg ca. 7 Meter vor mir und weil ich gerade so geschickt um die Ecke komme und der Wind günstig steht, bemerkt es mich gar nicht. Erst als ich stehenbleibe, schauen wir uns lange an, bis sich Capreolus Capreolus doch zur Flucht entscheidet. 


Nach ein paar Stunden werden die romantischen Wege zum Fluch. Schön zu gehen, schön zu gucken, aber nix für's Vorwärtskommen. Bergauf, bergab, keine gerade Linie. Als ich mich gerade wieder zum x-ten Mal eine Stunde runter ins Tal und auf der anderen Seite wieder rauf geschleppt habe, blicke ich vom Weg zurück auf die andere Talseite und habe fast das Gefühl, daß man rüberspucken könnte. Schön, aber leicht frustrierend. Überhaupt sind hier in den Cevennen die Horizonte so weit, daß ich nicht nur meine heutige Tour quasi in der Ferne nachverfolgen kann, ich sehe auch einen Gutteil der Tour von gestern und sogar von vorgestern. Vielleicht ist der große graue Bergklotz da hinten das Aubrac-Massiv, aber wer weiß. Im Luftlinien-Entfernungen-Abschätzen war ich schon immer ein Loser.

Spätes Mittagessen mit Mini-Quiche und ner Dose Cola auf einer sehr kurzgeschnittenen Wiese. Der Wanderer streckt sich zum ersten Mal seit langem wieder in der Sonne aus, der zackige Wind treibt mich aber nach nur einer Viertelstunde weiter. Allmählich wird es spät, der Vergleich zwischen Uhr und Karte prophezeit mir noch mindestens zwei weitere Stunden. Auf dem schmalen Grat zwischen "die Lust verlieren" und "verdammt schön hier" wandere ich weiter und spätestens auf den letzten 5 Kilometern gucke ich ständig auf die Karte, getreu dem Motto "Sind wir schon da?". Kurz vor Le Bleymard beginnt es zu regnen, inzwischen will ich nur noch ankommen. Ich lasse Bäcker und Dorfsupermarkt rechts liegen, die liegen da morgen auch noch. Die Füße schmerzen, ich hab mich mal wieder wund gelaufen und der Spaß ist mir vor ein paar Kilometern auch verloren gegangen.

Ich finde das einzige Dorfhotel in diesem 400-Seelen-Nest und kriege fast feuchte Augen, als mich der Kollege an der Rezeption fragt, ob ich irgendwelche nassen Sachen trocknen möchte. Er würde sie dann für mich in den Heizungsraum hängen, da trocknen sie schneller. Der restliche Abend bleibt glücklich. Daß das Zimmer schon bessere Tage gesehen hat, stört mich heute nicht: Zimmer und Restaurant sind günstig und dafür gut, für den Halbpensionstarif von 56 EUR gibt es Bett, Abendessen und Frühstück, dazu freundliche Worte und wieder ein Feuer im Kamin. 

Der Eigentümer und seine Angestellte führen beim Abendessen ein seltsames Ballett auf, ständig kommt einer von beiden vorbei und rezitiert leicht zeitversetzt den fragenacheinemaperitif- oder hatesgeschmeckt-Text, den der jeweils andere von beiden gerade schon aufgesagt hat. Dabei nutzen sie in hervorragender Choreographie die beiden getrennten Zugänge des Speisesaals, in dem ich - wie sollte es anders sein - als einziger Gast an 20 voll gedeckten Tischen sitze. Nach dem Essen überlege ich kurz, ob ich in die rappelvolle Bar wechsele, lasse es aber angesichts meines lädierten Zustandes bleiben.

Draußen pladdert wieder zuverlässig der Regen, ich beäuge noch ein paar Minuten ängstlich meine Karten für die nächsten Tage, dann ist Schluß für heute. Ein Tag ohne Krisen. Ein Tag ohne Gedanken. Ein Tag, an dem ich nur Landschaft ein- und Aussicht wieder ausgeatmet habe. Durch tiefe vergessene Täler geschwommen und über windgezauste Höhen gezogen. Jeder Kilometer ein zufriedener Seufzer, bis es irgendwann genug war.

Ich glaube, genau so will ich es haben.

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