Montag, 30. April 2012

Ein technischer Tag.

Sonntag, 29.04.2012
Montélimar nach Loriol-sur-Drôme
7 h / 29 km

Auch wenn der Himmel heute früh noch dramatisch aussieht: Kurz nach meinen niedergeschriebenen Klagen und Sorgen über das Wetter hört der Regen auf. Die Wolken hängen immer noch monströs aus, aber auch der Wetterbericht sagt tatsächlich Sonne voraus. 

Vorher nochmal voller Abscheu durch Montélimar. Der Intermarché hat sich einen Spaß erlaubt und einfach mal die gefühlte Standardsortierung umgeworfen. Brot nicht vorne rechts sondern Ende links. Getränke suche ich lange, sie sind versteckt hinter den Non-Food-Haushaltswaren. Anscheinend geht es nicht nur mir so, gefühlt irren alle Kunden orientierungslos durch den Laden. Was die Sache aber irgendwie auch schon wieder schick macht. Ein hoch auf die unterschwellige Psychologie der Supermarkteinrichtungen.

Die erstmögliche Bank zum Frühstücken lehne ich ab. Genau wie ich die Törtchen im Supermarkt abgelehnt habe. Die zweitmögliche Bank nehme ich und frühstücke wegen meines Joghurt@Rucksack-Traumas gleich den ganzen gekauften Joghurt weg. Beim Weg aus Montélimar passiere ich den ersten McDonalds seit 5 Wochen.

Es ist ein warmer Tag, aber der Wind pfeift sauber von Süden durch das Tal. Die ersten zwei Stunden kann ich die vier Kühltürme des Kernkraftwerks aus allen möglichen Richtungen betrachten, wird davon aber auch nicht schöner. Warum die klugen Franzosen allerdings ausgerechnet aus dem Bergrücken hinter dem Kraftwerk einen Steinbruch gemacht haben, werden sie sicherlich selber am besten wissen. Clever ist allerdings, daß sie gleich neben die Autobahn die erste Lavendelfeldkulisse gepflanzt haben, quasi als Einstimmung für alle niederländischen Touristen auf dem Weg in die Provence. Und ich kann alle beruhigen: Ich sehe endlich auch mal ein deutsches Touristenauto...

Alle meine Befürchtungen in puncto Verkehrswege werden wahr. Der Tag sah schon auf der Karte scheiße aus und die Wirklichkeit riecht auch nicht nach Rosen. Links die Rhône, daneben schön sortiert ein Feldweg, die D248, die Route Nationale 7 und die Autoroute 7. Obendrüber unzählige Hochspannungsleitungen, kreuz und quer. Eigentlich bin ich den ganzen Tag nur damit beschäftigt, einen Weg zwischen diesen Verkehrswegen hindurch zu finden. Augen zu und durch.

Vorbei am Wasserkraftwerk, das mit seiner Leere drumherum aussieht wie ein modernes Tschernobyl. Kernkraft vier Kilometer flußabwärts, riesiges Photovolatikfeld gibt es auch gleich da drüben, Windräder am anderen Flußufer. Toll. Da haben wir unseren Energiemix ja zusammen. Hoch auf den Deich in Erwartung von Flußromantik, schnell wieder runter, weil der Wind das Wasser, die Wellen und die Gischt schneller stromaufwärts peitscht als ich laufe. Über die dreispurige RN7, wenigstens nochmal mit einem letzten Blick auf den bemalten Kühlturm, dessen Farben auch schon am Verblassen sind. Durch abgekoppelte modernde Überflutungsgebiete hinter den Deichen, die niemand mehr braucht und die auf Knopfdruck weggeknipst werden. Durch Zäune sortierte Landschaft: Zäune an der Bahnstrecke. Zäune an der Autobahn. Zäune überall. Mein einziges Highlight auf vielen Kilometern entlang dieser technischen Landschaft ist der Jogger, den ich offensichtlich zu Tode erschrecke, als ich knapp vor ihm unvermittelt seinen Weg von links aus dem Niemandsland nach rechts ins Niemandsland kreuze. Er revanchiert sich 20 Minuten später damit, daß er plötzlich unter der Brücke links auftaucht, wofür er hätte eigentlich durch den Kanal schwimmen müssen.

Hinter Saulce wird es netter, kleine Asphaltsträßlein durch kleine Hügel. Aussichten auf die bewaldeten Hügel drüben im Department Ardèche.Die Orte halten Sonntagsruhe. Alles zu, nicht mal eine Kneipe oder ein Tabac-Laden hat offen, in dem ich mir was zu Trinken oder ein Eis ziehen könnte. Kein Mensch zeigt sich auf der Straße, viel zu windig und ungemütlich. Ich finde den Wind gut, denn ich bin mir sicher, daß er es ist, der heute verhindert, daß es noch weiter geregnet hat. Schleierhaft bleibt allerdings, wo das ganze Wasser der letzten Nacht hin ist. Alle Bäche und Flüsse sind ausgetrocknet und modern nur leicht wabernd vor sich hin.

Ich lande in einem Hochsicherheitshotel mit geschlossenem Tor, das sich erst nach Anmeldung an der Gegensprechanlage ferngesteuert öffnet. Lächerlich. Ich verzichte geizig aufs Abendessen und freue mich auf morgen, wenn ich von der Rhône wegkann.

Gewitter.

Gestern Abend ist nach einer Stunde Musik unter Kopfhörern draußen die Stimmung gekippt. Und tief gefallen. Ich habe den warmen Wind, der aus dem Süden das Rhônetal heraufkam, als willkommene Kühlung mißverstanden. In Wirklichkeit war es der Vorbote eines Gewitters, daß schon die ganze Nacht hindurch seine Fracht über der Stadt ablädt. Abendessen gestrichen, Kino gestrichen, rausgehen ist plötzlich unvorstellbar bei dem Wetter. Durch das gekippte Fenster hört es sich so an, als würde Wasser in einem Hafenbecken an die Betonwand klatschen und im fahlen gelben Licht des Morgens sieht es auch ein bißchen so aus.

Die Nacht kein Auge zugetan. Minute um Minute angstvoll dem Regen gelauscht. Dem Wind, der um der Häuser zog und die heute Nachmittag noch so volle Flaniermeile leerfegte. Im Bett rotiert. Immer wieder aufgestanden, um die aufgewühlten Pfützen auf dem Parkplatz im blauen Licht des Hotelschildes zu betrachten. Jede stille Minute, in der Wind und Regen nachließen, als gutes Zeichen geglaubt und jedesmal, wenn beide zurückkamen, wieder hilflos am Fenster gestanden. Diese Nacht hatte nichts Erholsames, dieses Gewitter nichts Reinigendes, das Geräusch des Regens vor dem offenen Fenster nichts Beruhigendes.

Der Gedanke, bei so einem Wetter loszulaufen, ist monströs. Ich wäre nach 10 Minuten klatschnaß und würde es den ganzen Tag über bleiben. Ich versuche das Maß an Überwindung anzuwiegen, das dazu nötig wäre und ordne es irgendwo bei "mit offenen Augen gegen eine Mauer laufen" ein.

 

Sonntag, 29. April 2012

Über den Fluß.

Samstag, 28.04.2012
Saint-Jean-le-Centenier nach Montélimar
7 h / 27 km

Aufgewacht von dem Geräusch von irgendwas, das im Dunkeln durch das offene Fenster in mein Zimmer springt. Während ich im Hochschrecken nach dem fremden Lichtschalter taste und rumore, springt es wieder raus. Auf dem Vordach vor dem Fenster keine Spur, wahrscheinlich eine Katze. Den Rest der Nacht wälze ich mich durch die Stunden.

Ich breche auf in ein warmes Wochenende, begleitet von dem Geruch von Sonnencreme auf meinen Armen. Beim Check-Out große Augen und interessierte Fragen, zum ersten Mal seit Längerem. Im Schatten hinter dem Hotel ziehe ich den Rucksack enger, schaue nochmal in die Ferne und atme lächelnd tief durch. Mit Blick auf die Karte wundere ich mich immer noch, daß es außer der Route Nationale keine einzige Straße und keinen einzigen Weg nach Osten gibt. Als ich die RN an derselben Stelle wie gestern Abend wieder überquere, ist der ganz kurze Gedanke, doch auf der Straße zu gehen, sofort wieder verpufft. Unmöglich. Als winzige Fliege zwischen all den Autos und 40-Tonnern. Also nach Süden.

In den Hügeln finde ich neben der nächsten Toskana-Postkarte einen Wegweiser, der ungefähr in meine Richtung geht, und schlage mich durch. Vorbei an leeren Ferienhäusern. Vorbei an dem Mountainbiker, der mich tierisch erschreckt. Vorbei an der örtlichen "4x4 im Alltagsfahrzeug"-Gruppe, die witzelnd auf den Hügeln und Kämmen motorsägend und zaunsetzend an den Wegen arbeiten. Runter nach Alba-la-Romaine, wo das Dorf auf ein Volksfest wartet und die Kaffeeseligkeit der Touristen mir reflexartig auch nur die kleinsten Gedanken von "hinsetzen und was trinken" vertreibt. Während ich durch das Dorf ziehe, hält mich nichts auf. Nur weiter. 

Auf denn nächsten Höhenzug sitze ich eine halbe Stunde auf einem Steinhaufen, hänge mein nasses Hemd in den Busch und mich in den Wind. Hier ist wieder alles menschenleer, nur eine gute Stunde später komme ich an einem einsamen Bauernhof vorbei, in dem noch jemand wohnt. Ein paar Ziegen, ein Wellblechdach über einem noch nicht eingestürzten Teil des uralten Steinhauses, ein klappriger Citroen-Kleinwagen. Der rostige Briefkasten ächzt dazu im Wind. 


Ich will die Rhône sehen. Der einzige französische Fluß, den ich hier unten schon vorher - wenigstens vom Namen her - kannte. Die einzige Landmarke, deren Überquerung ich in dieser mir vorher so fremden Ecke einordnen kann. Das Erste, was ich vom Rhônetal sehe, sind Strommasten. In allen Größen und in alle Richtungen. Danach eine wabernde Masse von Häusern und Siedlungen, durch die ich mich in den nächsten Tagen kämpfen muß und dann davor: Der Fluß. 

In Le Teil kaufe ich beim kämpfenden Dorfladen was zu trinken. Die örtlichen Händler haben eine Kampagne mit dem Slogan "Ich kaufe in Teil!" gestartet, um die Kunden an etwas zu erinnern, was anscheinend seit Jahren sowieso niemand tut. Der Ort ist schon lange ausgeblutet und das einzig Bunte hier sind die gelben Nummernschilder der niederländischen Kennzeichen, die zuhauf auf dem Weg von oder in die Provence hier durchfahren. Die Leuchtreklame der Apotheke zeigt 29° an, die des Optikers 27° und ich preise den Wind, der das einigermaßen erträglich macht.

Mit einem Stück Pizza vom Bäcker sitze ich vor der Rhônebrücke auf dem leeren Platz vor der örtlichen KFZ-Prüfungsstelle, der von den Tauben zugeschissen und vom Verkehrslärm zugedröhnt ist. Ich hab nicht aufgepaßt und ein Pizzastück mit Muscheln erwischt, die durch die Theke ein bißchen wie Pilze aussahen. Frustriert probiere ich einen Bissen, könnte fast kotzen vor Ekel und schmeiße die Bäckertüte in den nächsten Mülleimer.

Auf der Brücke ein kurzer Stich ins Herz: Ich verlasse Ardèche. "À bientôt" steht auf dem Schild, in diesem Fall nehme ich es wörtlich. Mit einem Mal wird mir bewußt, wie verwöhnt ich die letzten Tage von Landschaft und Bergen und Dörfern war, vor mir liegt eine häßliche Kleinstadt und die nächsten Tage werde ich wohl im Wesentlichen damit verbringen, im Rhônetal, wo sich der Verkehr kanalisiert, die großen Hauptstraßen zu umgehen. Das schmutziggelbe Wasser des Rhône-Seitenkanals rauscht schwefelig unter der Brücke durch, im Hintergrund dampfen die Kühltürme des Kernkraftwerks. Hart am Rand der Straße durch unbarmherzigen Verkehr, hier geht niemand zu Fuß. Durch blätternde Vorstädte, in denen die Stadt den Einfamilienhäusern links der Straße eine Lärmschutzmauer spendiert hat, den Wohnblocks rechts der Straße statt dessen einen Basketballplatz mit Gitterzaun. Kurz hinter dem Bahnhof plötzlich ausgelassene Wochenendstimmung im Park, die ganze Stadt scheint auf den Beinen und flaniert. Und streichelt stinkende Streichelzootiere. Alle sind da, alles ist da. Ich fühle mich dabei heute nur fehl am Platz.

Ich finde das Hotel, schließe mich sofort im Zimmer ein und sperre erstmal die Sonne aus.

Samstag, 28. April 2012

Zurück in der Landstraßensonne.

Freitag, 27.04.2012
Mercuer nach Saint-Jean-le-Centenier (oder besser: Route Nationale 102)
7 h / 28 km

Beim Frühstück sitzen sie schon, die wartenden Massen und ich holpere ihnen in meinem Kleinfranzösisch die Kurzversion meiner Urlaubsbeschäftigung hin. Gott sei Dank hält das nur für ein paar Minuten und danach darf ich während ich mein Marmeladenbaguette kaue das tun, was ich am liebsten mache: Französischen Konversationen zuhören. Und zusehen.

Die "petite randonée" beginnt gleich vor der Haustür. Hier ist schon sehr lange niemand gegangen. Auf dem pittoresken kleinen Weg zwischen den Feldern durch wächst inzwischen mannshoch das Gestrüpp, ich pflüge mich die ersten paar hundert Meter bis zum Hang rückwärts mit dem Rucksack voran durch den grünen Filz.

Aubenas ist häßlich und laut und riecht. Gut, ich rieche sicherlich auch, wie ich an dem respektvollen Abstand der Warteschlange in der Bäckerei mal wieder vor Augen geführt bekomme. Dabei habe ich erst vorgestern das Hemd gewaschen... Boulangerie / Pâtisserie heißt Chance auf Törtchen und trotz gutem Frühstück muß ich zugreifen. Wie ein Fuchs mit heimlicher Beute im Maul laufe ich mit der Törtchenschachtel durch Aubenas und suche einen schönen Platz zum Futtern. Als ich an dem angepeilten Fußweg den Hang runter ankomme (an dem man doch mit Sicherheit auch eine Parkbank vermuten darf), steht oben schon eine Oma mit Hund und guckt und staunt. Mich an. Sie muß sich sogar mit der Hand die Sonne abschirmen, weil sie es nicht glauben mag, daß da einer mit Rucksack... Was mir sowas von egal ist.

Auf der anderen Seite der Ardèche verlaufe ich mich am Flußufer, irre über den Hinterhof eines VW-Händlers und scheitere an diversen Eisentoren, laufe ziellos über die große Wiese und frage schließlich über den Zaun hinweg eine Frau, die gerade in ihrer Einfahrt ihre Einkäufe aus dem Auto lädt, wie ich auf die Straße komme, die nur 20 Meter hinter ihr breit und offen daliegt. Ach, da links und da über die Brücke und dann beim Sportplatz. Ob ich nicht einfach durch das Türchen hier in ihrem Zaun? Non, c'est fermé. Na, danke.

Kurz darauf kriege ich trotzdem, was ich will. Nachdem ich keine Lust habe, heute den ganzen Tag an der Straße entlang zu laufen, suche ich abenteuerlustig weiter nach kleinen Pfaden am Fluß entlang und werde schwer fündig. Hinter einem dunklen Torbogen aus Stein tut sich eine helle Gartenlandschaft auf, neben einem kühlen kleinen Parallelkanal zur Ardèche ziehen sich fast zugewachsene Wege durch Bambuswäldchen, an Gärten vorbei und überall surren die Insekten. Ich genieße, stehe zwar am Ende wieder auf der Straße, aber mit 2 Kilometern Genuß im Bauch.



Ein paar Kilometer weiter die Straße runter ändert sich das Bild. Ich klettere auf eine steinige Hochebene, deren Pflanzen man ansieht, daß da im Sommer nicht viel Wasser zu holen ist. Es gibt einen Wegweiser, wo ich keinen vermutet hätte und bei allem Übermut folge ich erstmal dieser Art Pfad da drüben, den ich für richtig halte. Durch Unterholz und kleine Bäume und überhaupt alles, was einem die Orientierung nimmt. Zehn Minuten später sagt mir mein Bauchgefühl, daß das nicht gutgeht. Nochmal zehn Minuten später bin ich soweit, daß ich umdrehe und in dem Moment des Umdrehens verliere ich prompt die Orientierung. Ich preise dem Umstand, daß ich seit Wochen meinen Kompaß nutzlos mit mir rumschleppe und suche mir einen Weg zurück. Als ich die Straße und das erste Auto höre, ist es wieder ganz einfach.

Danach folgen viele kleine Täler, die ich alle durchqueren darf. Eines ist frühlingshaft grün und saftig, das Nächste ist staubig-grau, dahinter kommt wieder die Toskana-Postkarte mit Weinbergen und Obstbäumen und zum Schluß das Tal mit den Fröschen, die ich noch fast einen Kilometer weiter Alarm schlagen höre. Es folgt das Tal mit den häßlichen Neubauten und dann die Straße, ab der ich wieder auf der Straße gehen muß.

Die D459 ist heiß und windstill und meine Wasserflaschen sind schon lange leer. Seit gestern endlich schwitze ich wieder in der schattenlosen Landstraßensonne und bin immer noch fassungslos, daß es tatsächlich warm ist. An der großen Kreuzung, wo meine Karte mir sagt, daß ich irgendwie komisch abbiegen muß, gibt es an der Route Nationale eine Art Rasthof, ich renne darauf zu, gebadet in Schweiß, reiße zwei kleine Flaschen Cola aus dem Kühlschrank, könnte den Typen vor mir, der zwei Lottolose kaufen und für zwölf Lottolose plaudern will, vor Zeugen erwürgen, zahle meine Cola, stürze nach draußen, ringe mir noch zwanzig Sekunden bis zum nächsten Picknicktisch ab, werfe meinen Rucksack auf den Boden -- und setze mich hin. Lasse den Wind über das nasse Hemd blasen. Trinke den ersten Schluck und werde ganz ruhig.

Die letzte halbe Stunde suche ich mein Hotel, das sich zwischen Schnellstraßenauffahrten und Hügeln versteckt, aber das ist egal. Die kalte Cola hat dafür gesorgt, daß alles ab jetzt nur noch Bonus ist. Oben an der Kreuzung treffe ich den Bauern mit seinem alten Traktor wieder, den ich vorhin im Weinfeld gesehen habe. Wir erkennen uns an einem kurzen Nicken und Verziehen des Mundwinkels. Und über ein Stück vergessene Straße, die früher mal den Glanz der Route Nationale getragen hat, bevor die neue Straße gebaut wurde, finde ich - stilecht über den Personalparkplatz - mein Hotel, auf dessen Gästeparkplatz kein einziges Auto steht.

Alles was ich will, ist meine Arme und meinen Kopf unter kaltes Wasser stecken. Die Dusche und das offene Fenster tragen dafür Sorge, daß ich mich von einem laufenden schwitzenden Wesen wieder in einen Menschen verwandele, später fühle ich mich sogar bereit für ein Abendessen. Gehobener Standard. Fernstraßenhotel, aber sehr gut gemacht. 

Draußen rauschen lautlos die Autos auf der vierspurigen Nationalstraße vorbei. Wo wollen die alle hin? Warum sind die alle so schnell? Bin ich noch einer von ihnen?

Ich belächele die Armada der weißen Autos auf dem Hotelparkplatz, habe Mitleid mit dem gebügelten Kind, das sich zu benehmen weiß, das mit seinen furchtbaren Eltern, für die es sich eines Tages schämen wird, aus dem weißen X3 aussteigt und wünsche mir nichts sehnlicher, als irgendwo draußen alleine in der Dämmerung zu sitzen.

Und plötzlich ist der Gedanke da. Der, auf dessen Erscheinen ich schon ganz still gewartet habe. Und danach? Wie zurückgehen in ein Leben, dessen Einzelteile ich zwar vermisse, dessen Gesamtheit aber tagtäglich in tausendfacher Ausführung an mir vorbeirauscht und mir nur noch Befremden oder Ironie entlockt? Wie einfach nach Hause kommen und alles weiter wie vorher? Die Größe dieser Frage nimmt mir die Ruhe und ich bin froh, daß es draußen dunkel ist und ich die Autos nicht mehr sehen muß und daß mein Essen aufgegessen ist und ich alleine in mein stilles Zimmer gehen kann. Meine Schritte werden vielleicht irgendwann eine Antwort finden. Draußen zirpen die Grillen.

Freitag, 27. April 2012

Für Otti.

Ich bleibe vorerst bei der Pickup-Idee. Opa hat ihn ein paar Minuten, nachdem ich vorbei war, zum Laufen gebracht. Ich konnte ihm noch lange dabei quer durchs Dorf zuhören. Rund, laut und lecker.


Für Monsieur Müller.

Den auch, oder?


Zurück in die Zivilisation.


Donnerstag, 26.04.2012
Sanilhac nach Mercuer
6 h / 24 km

Beim Weg über die Straße zum Frühstück wartet schon der Hotelhund auf mich und fordert erstmal Aufmerksamkeit. Soll er kriegen... Im Frühstücksraum wartet Dampf, denn der Eierkochautomat kocht fleißig vor sich hin und verströmt ein gut gemeintes Aroma von Essig, das jemand gegen Kalkablagerungen in den Eierkocher gepackt hat. Aber immerhin: Mein erstes Frühstücksei seit Wochen. Und Obstsalat. Und Joghurt zum Niederknien. Das wird ein guter Tag.

Sanilhac ist ein hübsches kleines Dorf, wie ich es inzwischen schon unzählige Male gesehen habe und von dem keine Erinnerung bleibt. Nichts außer einer Kirche, einem Briefkasten und einem kleinen Rathaus, in dem irgendwas verwaltet wird, worum sich sonst niemand kümmert. Im Tal dahinter ein geschlossener Campingplatz und der Geruch von langsam vor sich hin kohlendem Gestrüpp, das die Rentner hier gerade in ihren Gärten verbrennen. Vorbei an Weinbergen und Kastanienplantagen. Vorbei an der "Châtaigneraie", meiner zweiten Übernachtungsoption für letzte Nacht, die ich nicht weiter in Erwägung gezogen hatte, weil ich unbedingtunbedingtunbedingt in der Aussichtsherberge absteigen wollte. Jetzt ärgere ich mich. Die Châtaigneraie ist ein imposanter Steinbau oben im Tal, mit genauso schöner Aussicht und halb so teuren Zimmern. Als ich den kleinen Weg an ihrem Parkplatz vorbeigehe, erwischen mich die zwei Haushunde und wollen aber nach zwei Minuten bellen doch wieder nur schmusen. Die Besitzerin schaut aufgeschreckt über die Mauer der Kastanienbude, entschuldigt sich für die Hunde und fragt, wo ich hin will. Als ich mich vergewissern will, ob der Weg wirklich hier quer über den Parkplatz geht, winkt sie mich schnell rein und versorgt mich mit einer vergrößerten Kartenkopie, in der quasi ein kleiner Geheimweg zwischen den Weinbergen hindurch nach Montréal beschrieben ist. Jetzt ärgere ich mich richtig, daß ich nicht hier übernachtet habe...


Der Weg schlängelt sich auf schmalen Fußpfaden durch die Weinberge, vorbei an einzelnen Häusern und Waldstücken. Ständig muß ich stehenbleiben und bewundere die Aussicht bzw. beäuge insgeheim neidisch die schönen Steinhäuser mit ihren riesigen Terrassen, auf denen man sicher abends schön bei einem schwer alkoholischen Sommergetränk das Panorama genießen kann. Bei vielen Häusern geht mir - wie in den letzten Tagen immer wieder - der sehnsuchtsvolle Satz "Kann ich hier bitte wohnen?" durch den Kopf.

Auf dem Weg nach Montréal dreht die Natur dann vollends durch. Hier unten ist der Frühling schon fast wieder durch. Ich sehe blühende Orchideen, die Kirschbäume haben schon fingernagelgroße grüne Früchte an den Ästen, und überall hört man die Hummeln und Bienen. Das Château lasse ich links liegen und steige nach Largentière ab, beobachte dabei noch, wie sich ein Kühllaster und ein Peugeot Kombi konspirativ auf dem Parkplatz treffen und dem Kühllaster dabei quasi ein paar Styroporkisten Ladung von der Ladefläche direkt in den Kombi fallen.

Largentière macht einen bitteren Eindruck: Ein Gewirr von Tunneln und Brücken und Viadukten und Röhren. Das Erste, was ich von dem Ort sehe, ist die Gendarmeriestation, ihr Funkmast und ein für dieses 2.000-Einwohner-Kaff recht stattliches Kleingefängnis. Am Supermarkt laufe ich unbegreiflicherweise vorbei, ohne einzukaufen. Am Bäcker laufe ich gedankenlos vorbei, ohne nach Törtchen zu gucken. An allen Cafés laufe ich schnurstracks vorbei, ohne mich zum Mittagessen hinzusetzen. Die historische Altstadt hake ich ab, ohne die angemessene Anzahl von Fotos zu machen. Dem Château gönne ich nur noch einen kurzen Blick von der Hauptstraße aus.

Als ich durch den Ort durch bin, weiß ich plötzlich wieso. Das war die erste richtige Kleinstadt mit Autoverkehr, Läden und Fußgängern seit einer Woche. Nach der Leere und der Stille der Berge war zum ersten Mal wieder konstanter Verkehrslärm zu hören, mußte ich zum ersten Mal wieder auf einem Bürgersteig statt einfach auf der Straße laufen und plötzlich bin ich froh, daß ich durch Largentière einfach durchgeschlüpft bin.

Das Glückskind findet statt dessen kleine Pfade und Treppen durch die Hanggärten hoch nach Chassiers. Das Wetter ist richtig schön geworden, manchmal scheint sogar die Sonne. Nur beim Blick zurück in Richtung Berge, wo ich hergekommen bin, sieht alles nach Weltuntergang aus. Die letzten Stunden bis zu meiner Bauernhofunterkunft ein paar Kilometer vor Aubenas ärgere ich mich nun doch ein bißchen, daß ich mir nichts zu Essen besorgt habe, denn die gute Wirtin hatte am Telefon schon klargemacht: Zimmer gerne, Abendessen non. Wenigstens hatte ich Zeit, mich darauf einzustellen und spare mir die letzten zwei KitKat als Abendessen zum Leitungswasser auf.

Der Hofhund empfängt mich schon auf einen halben Kilometer mit imposantem Bellen, hat aber bei genauerem Hinsehen doch nur tierisch Schiß und braucht sehr lange und viel gutes Zureden und das Ablegen von Rucksack und Mütze, um sich endlich zum Streicheln in die Nähe zu trauen. Nachdem ich erstmal bei den kaffeetrinkenden Nachbarinnen in den Wintergarten gestolpert bin, kommt der Wirt lachend um die Ecke und holt mich da raus. Zur Begrüßung gibt es - aah - ein kaltes Bier für mich und ihn und ich gönne ihm sofort, daß heute alle seine Zimmer ausgebucht sind. Später muß ich ihn allerdings dabei belauschen, wie er alles und jedem auf dem Hof meine Geschichte erzählt. Das kann ja heiter werden morgen beim Frühstück...

Und Abends: Ein jähes Geschenk! Im Dorf gibt es wohl eine Dorfpizzeria, die ich in einem Nebensatz der Wirtin entdecke. Und tatsächlich: Obwohl alle Stühle auf der Terrasse zusammengestellt sind, hat die Pizzeria doch netterweise ein paar leere Flaschen auf die Tische gestellt, um zu signalisieren, daß geöffnet ist. Ich bestelle Salat und Pizza -- alles andere auf der Karte würde man wohl in keiner Dorfpizzeria essen wollen. Dazu Bier. Nichts ist besser als ein warmes Abendessen, wenn man damit gerechnet hat, hungrig ins Bett gehen zu müssen. Ich beobachte noch ein bißchen den Kellner hinter dem Tresen und rätsele, welchem Beruf er wohl im echten Leben nachgeht und muß aufpassen, mich nicht beim Starren erwischen zu lassen.

Auf der Viertelstunde Weg zurück zu meinem Bauernhof schaue ich den Schatten der Hügelketten zu, wie sie über letzten Häuser am Hang hinwegwandern und schließlich das ganze Tal in die Stille sinkt. Der Wind treibt Fetzen von Sommergerüchen an mir vorbei und plötzlich fühlt sich alles an wie ein etwas zu kühler Abend Anfang Juni.

Kastanienwälder.

Mittwoch, 25.04.2012
Valgorge nach Sanilhac
7 h / 21 km


Der Vorteil an Épicerien: Man kann eben mal schnell am Arsch der Welt was Einkaufen. Der Nachteil: Es kostet dich dein ganzes Geld. Für eine Flasche Orangina, eine Schachtel Kekse und eine Tafel Schokolade knöpft mir das lustlose Ding hinter dem Tresen des einzigen Laden von Valgorge über 8 EUR ab. Der Wanderer seufzt und genießt den Luxus.

Ich hab mir heute die harte Variante ausgesucht -- warum, weiß ich auch nicht mehr. Zum Frühstück gibt es 500 Meter Aufstieg und es dauert keine halbe Stunde, bis der Schweiß kocht und ich den Rucksack hinschmeiße und die lange Hose gegen die Shorts tausche. Überall Wühlspuren von Wildschweinen, überall Kastanienbäume. Bergauf vorbei an eingestürzten Häusern mit dem Gefühl, daß hier schon sehr lange niemand mehr gewesen ist. Oben am Forstweg wird's wieder gemütlich. Es geht zwar immer noch bergauf, aber ich habe die Hände locker in der Hosentasche und außerdem Aussicht.


Eine Stunde später am Sommet de l'Abitarelle kann man noch viel besser auf die an das Tal anschließende Hügellandschaft gucken und während ich gucke, sehe ich dahinter --- die Alpen. Ganz hinten im Nordosten sieht man schneebedeckte Berge wie eine Mauer nebeneinander aufgereiht. Ich stehe lange und gucke und staune und wundere mich, wie sehr Entfernungen zusammenschnurren können. All das sieht so nah und nach mal eben aus, wird aber noch mindestens 10 Tagesmärsche kosten. Es wird kalt im Wind, ich reiße mich los und steige ab ins Tal.

Auf dem Weg nach unten wird immer deutlicher, warum das hier das große Kastanienland mit Kastanienfest, Kastanienlikör und Kastanienmaskottchen ist. Kastanien überall. Im Wald zwischen den Tannen. In alten verlassenen Gärten und ehemaligen Plantagen am Hang. In den Dörfern. Uralte Bäume, manchmal zu bizarren Gebilden verdreht und von jungen Schößlingen umringt. Baumskelette, von Blitzen und Bränden verzehrt, aber immer noch voller Leben und mit frischen Trieben und Blüten an den Spitzen. Der Weg schlängelt sich wieder auf alten Pfaden zwischen den Gärten und Häusern durch, hinter La Roche laufe ich durch riesige Kastanienhaine mit alten Bäumen, ein Schäfer treibt gerade seine Herde hindurch und die Idylle ist perfekt.

Wieder im Zeitraffer vom Winter zum Frühling. Am steilen Hang auf dem Abstieg zur Brücke über die Baume duftet und grünt es in allen Ecken und Spalten. Ich lasse mich ablenken und stolpere ein paar Mal ekelig auf dem losen Geröll und ich spüre die zusätzlichen Kilos des Rucksacks zu meinem eigenen - durchaus ausreichenden - Gewicht. Jeden Schritt prügelt sich in die Knie und Gelenke. Und unten an der Brücke das alte bittere Spiel: Nur kurz über den Fluß und sofort wieder hoch. Ich hatte vor lauter "naja, der Tag wird nicht so lang" gar nicht richtig auf die Karte geguckt, was für ein saftiger Anstieg mich erwartet. Geradeaus auf dem Kamm auf den Tour de Brison zu, ein Turm auf dem Gipfel. Sofort nach der Brücke verirre ich mich erstmal in den Schafspfaden und kraxele in die vollkommen falsche Richtung. Der richtige Weg ist allerdings auch nicht viel besser. Die erste halbe Stunde geht es steil bergauf, ich quäle mich auf allen Sechsen die Felsen hoch. Mit dem Rucksack ist das echte Knochenarbeit. Norwegischer Aufstieg: Geradeaus den Hang hoch, keine Serpentinen. Wo auch? Links und rechts fallen die Hänge steil in dicht bewaldete Täler ab und über allem thront und grient der Turm, der trotz aller Quälerei nicht näher kommt.

Ich treffe auf Ruinen von kleineren Nebentürmen, die den Tour de Brison im 12. Jahrhundert bei der Überwachung der umliegenden Ländereien und ihrer Minen unterstützt haben. Auf endlose Steinmauern auf dem steilen Kamm. Auf Regen, der mich von hinten einholt. Und zu meiner Überraschung auf gut zehn Rentnerinnen und Rentner, die mir am steilsten Stück entgegenkommen. Ich kann sie schon ein paar Minuten vorher hören, das helle Klack-Klack-Klack ihrer Wanderstöcke auf den Felsen verrät sie. Ich grüße freundlich und wünsche ihnen im Stillen viel Glück beim Abstieg auf den nassen Felsen.

Im Regen finde ich ein trockenes Plätzchen. Ein großer Felsen hinter mir hält den Wind ab, ein großer Baum über mir den Regen. Ich esse meinen letzten Apfel und ein Stück Schokolade und bin froh, für ein paar Minuten einfach nur in den Regen und in die Wolken zu gucken.

 Oben angekommen, versaut mir der scharfe Wind den größten Teil der Belohnung. Zwei schnelle Fotos, drei schnelle Blicke in die Ferne, das muß reichen. In den Bergen im Westen ist alles dunkelgrau und wolkenverhangen, weit im Osten über dem Rhônetal reißen die Wolken langsam auf, dahinter leuchtet dramatisch die Wolken über den dunklen Schatten der Bergketten. Ich fühle mich hier oben schutzlos und verloren, ziehe den Rucksack enger und mache mich an den Abstieg.






Nur noch eine kleine Stunde und ich stehe vor dem Hotel, das ich mir schon in meinen Notizen als besonders gekennzeichnet habe. Ich hatte es auf Google Streetview gesucht, weil ich nicht sicher war, ob es wirklich existiert (Stichwort für Google Streetview: "auberge de la tour be brison, sanilhac"). Und beim Schwenken der Ansichtsrichtung knallte mir ein Panorama ins Gesicht, das sich eingegraben hat. Die Realität ist besser. Ich biege ab auf eine kleine Straße, auf der bis zum nächsten Morgen genau zwei Autos fahren werden, laufe ein Stück Straße entlang, das ich schon kenne und muß mir erstmal ein paar Minuten die Aussicht anschauen, bevor ich mich dem schmusebedürftigen Hund vor der Eingangstür widme und dann endlich ankomme.


Eigentlich ist mir der Laden ein bißchen zu teuer, aber beim Abendessen merke ich, daß mir jede Ausrede recht gewesen wäre, um einfach nur mit einem Glas Wein im Warmen zu sitzen und die langsam im Dunkel versinkenden Berge anzusehen. Ich denke an diesem Abend oft darüber nach, welche Landschaften mich mit ihren Extremen bisher so fasziniert haben wie die Ardèche. 

Viele sind es nicht...



Mittwoch, 25. April 2012

Wenn man einmal anfängt: La Poste.

Wege durch die westliche Ardèche.


Ab in die Top 5.

Mittwoch, 24.04.2012
Le Bez nach Valgorge
19 km / 6,5 h

Zum Aufwachen Sonne. Zumindest auf den ersten Blick. Auf dem Dach vor meinem Zimmerfenster liegt Schnee, im Tal dahinter schwere Wolken und der Wind pfeift kräftig. Ich bleibe mißtrauisch, denn optisch genauso ansprechend sah es auch gestern an meinem Pausentag aus. Drei Stunden Sonne, danach den ganzen Tag durchgehend saftigen Regen. Wehe, wenn sich das heute wiederholt.

Der Tag ist eigentlich viel zu kurz, ich hatte gestern schon fast überlegt, zwei Touren zusammenzufassen, aber nach einer halben Stunde Grübeln kam der erlösende Gedanke: "Wozu die Hektik?". Nachträglich bin ich froh drüber: Es wird ein spektakulärer Tag werden. Hoch über den Schluchten von Borne, durch verfallene Bergdörfer, an mittelalterlichen Festungsanlagen vorbei, liebliche Wege runter ins Tal, Rückkehr der Wärme und des Grüns und - Restaurantballett. Aber der Reihe nach...

Beim Loslaufen verstehe ich erstmal, wieso vorgestern bei meiner Ankunft ein alter Mann mit Anzug jovial auf den Parkplatz gepisst hat: Der Berggasthof steht auf der Wasserscheide zwischen Atlantik und Mittelmeer. Leicht beruhigt kippe ich in Richtung Mittelmeer, nehme erstmal den falschen Weg und schleiche mich 10 Minuten später wieder beschämt an den Fenstern der Auberge du Bez vorbei.

Oben am Hang entlang, hoch über den Schluchten der Borne, die unten deutlich rauscht und sich ab und zu mit tiefgrünem Wasser zwischen den Felsen zeigt. In der Ferne kann ich weiter hinten im Tal den Weg erkennen, den ich später entlang eiern werde. Steil bergab vorbei am Bergdorf Les Chazalettes, von dem nur ein einziges bewohntes Haus übrig geblieben ist. Der Rest steht leer oder ist schon vor Jahrzehnten eingestürzt. Nur eine alte Frau mit Hund scheint hier noch durchzuhalten, im Sommer werden wohl zwei der Häuser noch als Feriendomizil genutzt. Der Weg hält sich an den uralten Verlauf des Bergpfades, mit dem die Bewohner des Dorfes ihre Häuser früher vom Tal und dessen Hauptort Borne aus erreichen konnten. Ein schmales, in Serpentinen gelegtes Steinband, aufgeschichtet in kleine Terrassen, mit Begrenzungsmauern und an vielen Stellen großen Steinplatten, die ein komfortables Gehen ermöglichen. Was muß das für eine unendliche Arbeit gewesen sein, diesen kilometerlangen Weg zu bauen, zu verbessern, zu erhalten. Tonnenweise Steine zu schleppen, sie kunstvoll zu Mauern zu stapeln, dem steilen Hang einige ebene Quadratmeter abringend.


 
Eine gute Stunde später erreiche ich den Ausgang unterhalb von Borne, der Hauptort des Tals ist gerade mal 40 Einwohner stark. Als ich locker in den Weg runter zur Brücke einbiege, falle ich fast rückwärts vom Stuhl, als ich um die Kurve kommt und die Rückseite des riesigen Felsens in der Talmitte sehe. Ein mittelalterlicher Wehrturm, der die Brücke über die Borne bewacht hat. Unten am Fluß entdecke ich auch noch die Ruinen von weiteren Befestigungen, unter anderem des Torhauses. Bitter enttäuscht, daß hier kein Historienfreund eine ausführliche Informationstafel aufgestellt hat, mache ich mich an den Aufstieg zum Croix de Toutes Aures.


Schnell wird es ungemütlich. Wind, Regen und ein bißchen Schnee kommen von Westen in das Tal und pfeifen über den Paß. Oben angekommen schenke ich mir die Verschnaufpause und warte lieber noch ein paar Minuten, bis ich auf der anderen Seite im Windschatten bin. Hinter dem nächsten Dorf kriege ich dann das Tal-Panorama ins Gesicht geschmettert. Links Berge, rechts Berge, in der Mitte ein Tal, das in der Ferne in sanften Hügeln ausläuft und schonmal erahnen läßt, daß da hinten das Rhône-Tal liegt.


Überall Ginsterwiesen, von denen schon einige vorsichtig leuchtend gelb blühen. Im Juni zur Hauptblütezeit müssen alle diese Berghänge in knallgelb erstrahlen und das ganze Tal duften. Das tut es bisher eindeutig - nicht.

Ich mache mich an den Abstieg, der mich in sanften Schleifen über Kilometer entlang des Hanges langsam und stetig nach unten bringt. Wieder über Steinwege, die vor vielen Jahren gebaut wurden, als es noch keine Straßen gab und diese Wege die einzigen Verbindungen zu den Bergdörfern waren. Mit Sicht auf das Tal und die Berge gegenüber ziehen die Stunden und Kilometer vorbei und nur die französische Armee, die in dieser Ecke Luftkampfübungen mit ihren dreieckigen Kampfjets durchführt, die immer wieder fauchend über Berge und Täler hinweghuschen, trübt die Idylle. Trotzdem notiere ich mir im Laufe der Tour diesen Tag auf der schlampig geführten Liste der Top 5 meiner bisher schönsten Wandertouren.

Je tiefer ich komme, umso mehr kehrt der Frühling zurück. Es wird immer wärmer, bald sehe ich die ersten Blätter an den Bäumen, knospende Zweige, überhaupt ändert sich das "grau-vor-braun" der Höhen zu einer Farbpalette, die bei blaugrün beginnt und erst bei gelbgrün wieder aufhört. Unten angekommen, entledige ich mich erstmal meiner Jacke und wandere - ohne beißenden Wind und Regen - glücklich am Fluß entlang die letzten Kilometer nach Valgorge. In den Dörfern blüht der Flieder und ich höre sogar schon ein paar Grillen zirpen. Die Rentner werkeln in den Gärten und die Hunde liegen faul vor den Garagen. Der Friseur hat geschlossen, dafür sitzen die drei Stammkundinnen auf der Bank gegenüber dem Rathaus und sind ganz vertieft in ihr Gespräch, während ich vorbeiziehe.

Als ich nach Valgorge komme, bin ich sehr neugierig auf das Dorfhotel. Es hat eine tolle Website und auch die Wirtin von der Auberge du Bez hat es mir wärmstens empfohlen. Mich erwartet: Ein rechtwinkliger 60er-Jahre-Betonkasten. Ich atme tief durch, gehe rein, werde freundlich empfangen und ich verliebe mich sofort in die gute alte Telefonkabine hinter der Rezeption. Und in die graue Retro-Tapete im Zimmer. Und in die Aussicht vom Balkon. Und überhaupt. Beim Abendessen merke ich, daß sie es hier im Restaurant und überhaupt wirklich ernst meinen. Keine Spur von verzweifeltem Abgleiten in schlechtere Zeiten: Die Wirtin platziert die Gäste (von denen immerhin außer mir noch 6 weitere an den Tischen verteilt sind; für einen Dienstagabend am Ende der Welt ein sehr gutes Ergebnis) mit großer Geste und vor allem gekonnt so, daß niemand dem anderen ins Gesicht starrt. Dann beginnt das Reigen der Merkwürdigkeiten. Jetzt verstehe ich, warum ich bei der Ankunft nochmal meinen Vor- und Nachnamen auf einen Zettel schreiben sollte, denn ab sofort wird's persönlich.

Ein handschriftlich aufgeschriebener und mit Namen versehener Menüvorschlag liegt auf meinem Tisch und wird erstmal in Ruhe durchgesprochen. Es folgt der Auftritt des Kellners. In einem Affenzahn wetzt er durch den Raum, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt. Aperitif? Wein? Wasser? Das alles mit einer Beflissenheit und Ernsthaftigkeit, die auch in ein dreimal so teures Lokal gepaßt hätte, die aber hier in keinster Weise fehl am Platz ist. Denn alles ist genau choreographiert und alles stimmt. Zuerst kommen Wasser und Brot. Dann der Aperitif. Die Vorspeise wird erst serviert, als ich mit dem Apertif fertig bin. Auch der Wein kommt erst dann auf den Tisch. Alles genau austariert. Die Wartezeiten zwischen den Gängen sind genau richtig, nicht zu hektisch, nicht zu lang. Mit wachem Blick steht der Kellner in der Schwingtür zur Küche und überblickt unaufdringlich den Raum. Wenn er etwas entdeckt hat, um das es sich zu kümmern gilt, schießt er los. Die ersten zwei Meter nimmt er noch Anlauf, danach hat er aber seine Reisefluggeschwindigkeit erreicht und saust durch den Speisesaal. Bevor irgendwas auf den Tisch kommt, wird das Besteck nochmal schnell poliert. Natürlich ist immer ausreichend Brot und Wasser da. Und es wird einfach alles richtig gemacht.

Mein Menü für diesen Abend:
Aperitif:
Edelkastanien-Likör mit Champagner

Vorspeise: 
Linsen-Cappuchino mit geräuchtem Lachs und Sauerrahm

Hauptgang: 
Filet Mignon vom Lamm mit Artischocken und einer Art Katroffel-Rösti (nur besser!)

(Käseplatte habe ich wie immer ausfallen lassen...)

Dessert: 
Vanille- und Pfirsicheis an Edelkastanienmus mit Honigsauce


Und wieder ein Abend, an dem ich über die Preisgestaltung nur staunen kann. Zimmerpreis ohne Frühstück: 44 EUR. Als Halbpensionstarif gibt es Zimmer, Frühstück und oben stehendes Abendessen (ohne Getränke) für 58 EUR. Das ist ein Preis-/Leistungsverhältnis, an dem gemessen die meisten anderen Läden scheitern. Punkt. Wins all the awards: Hotel Le Tanargue, Valgorge.