Freitag, 27. April 2012

Zurück in die Zivilisation.


Donnerstag, 26.04.2012
Sanilhac nach Mercuer
6 h / 24 km

Beim Weg über die Straße zum Frühstück wartet schon der Hotelhund auf mich und fordert erstmal Aufmerksamkeit. Soll er kriegen... Im Frühstücksraum wartet Dampf, denn der Eierkochautomat kocht fleißig vor sich hin und verströmt ein gut gemeintes Aroma von Essig, das jemand gegen Kalkablagerungen in den Eierkocher gepackt hat. Aber immerhin: Mein erstes Frühstücksei seit Wochen. Und Obstsalat. Und Joghurt zum Niederknien. Das wird ein guter Tag.

Sanilhac ist ein hübsches kleines Dorf, wie ich es inzwischen schon unzählige Male gesehen habe und von dem keine Erinnerung bleibt. Nichts außer einer Kirche, einem Briefkasten und einem kleinen Rathaus, in dem irgendwas verwaltet wird, worum sich sonst niemand kümmert. Im Tal dahinter ein geschlossener Campingplatz und der Geruch von langsam vor sich hin kohlendem Gestrüpp, das die Rentner hier gerade in ihren Gärten verbrennen. Vorbei an Weinbergen und Kastanienplantagen. Vorbei an der "Châtaigneraie", meiner zweiten Übernachtungsoption für letzte Nacht, die ich nicht weiter in Erwägung gezogen hatte, weil ich unbedingtunbedingtunbedingt in der Aussichtsherberge absteigen wollte. Jetzt ärgere ich mich. Die Châtaigneraie ist ein imposanter Steinbau oben im Tal, mit genauso schöner Aussicht und halb so teuren Zimmern. Als ich den kleinen Weg an ihrem Parkplatz vorbeigehe, erwischen mich die zwei Haushunde und wollen aber nach zwei Minuten bellen doch wieder nur schmusen. Die Besitzerin schaut aufgeschreckt über die Mauer der Kastanienbude, entschuldigt sich für die Hunde und fragt, wo ich hin will. Als ich mich vergewissern will, ob der Weg wirklich hier quer über den Parkplatz geht, winkt sie mich schnell rein und versorgt mich mit einer vergrößerten Kartenkopie, in der quasi ein kleiner Geheimweg zwischen den Weinbergen hindurch nach Montréal beschrieben ist. Jetzt ärgere ich mich richtig, daß ich nicht hier übernachtet habe...


Der Weg schlängelt sich auf schmalen Fußpfaden durch die Weinberge, vorbei an einzelnen Häusern und Waldstücken. Ständig muß ich stehenbleiben und bewundere die Aussicht bzw. beäuge insgeheim neidisch die schönen Steinhäuser mit ihren riesigen Terrassen, auf denen man sicher abends schön bei einem schwer alkoholischen Sommergetränk das Panorama genießen kann. Bei vielen Häusern geht mir - wie in den letzten Tagen immer wieder - der sehnsuchtsvolle Satz "Kann ich hier bitte wohnen?" durch den Kopf.

Auf dem Weg nach Montréal dreht die Natur dann vollends durch. Hier unten ist der Frühling schon fast wieder durch. Ich sehe blühende Orchideen, die Kirschbäume haben schon fingernagelgroße grüne Früchte an den Ästen, und überall hört man die Hummeln und Bienen. Das Château lasse ich links liegen und steige nach Largentière ab, beobachte dabei noch, wie sich ein Kühllaster und ein Peugeot Kombi konspirativ auf dem Parkplatz treffen und dem Kühllaster dabei quasi ein paar Styroporkisten Ladung von der Ladefläche direkt in den Kombi fallen.

Largentière macht einen bitteren Eindruck: Ein Gewirr von Tunneln und Brücken und Viadukten und Röhren. Das Erste, was ich von dem Ort sehe, ist die Gendarmeriestation, ihr Funkmast und ein für dieses 2.000-Einwohner-Kaff recht stattliches Kleingefängnis. Am Supermarkt laufe ich unbegreiflicherweise vorbei, ohne einzukaufen. Am Bäcker laufe ich gedankenlos vorbei, ohne nach Törtchen zu gucken. An allen Cafés laufe ich schnurstracks vorbei, ohne mich zum Mittagessen hinzusetzen. Die historische Altstadt hake ich ab, ohne die angemessene Anzahl von Fotos zu machen. Dem Château gönne ich nur noch einen kurzen Blick von der Hauptstraße aus.

Als ich durch den Ort durch bin, weiß ich plötzlich wieso. Das war die erste richtige Kleinstadt mit Autoverkehr, Läden und Fußgängern seit einer Woche. Nach der Leere und der Stille der Berge war zum ersten Mal wieder konstanter Verkehrslärm zu hören, mußte ich zum ersten Mal wieder auf einem Bürgersteig statt einfach auf der Straße laufen und plötzlich bin ich froh, daß ich durch Largentière einfach durchgeschlüpft bin.

Das Glückskind findet statt dessen kleine Pfade und Treppen durch die Hanggärten hoch nach Chassiers. Das Wetter ist richtig schön geworden, manchmal scheint sogar die Sonne. Nur beim Blick zurück in Richtung Berge, wo ich hergekommen bin, sieht alles nach Weltuntergang aus. Die letzten Stunden bis zu meiner Bauernhofunterkunft ein paar Kilometer vor Aubenas ärgere ich mich nun doch ein bißchen, daß ich mir nichts zu Essen besorgt habe, denn die gute Wirtin hatte am Telefon schon klargemacht: Zimmer gerne, Abendessen non. Wenigstens hatte ich Zeit, mich darauf einzustellen und spare mir die letzten zwei KitKat als Abendessen zum Leitungswasser auf.

Der Hofhund empfängt mich schon auf einen halben Kilometer mit imposantem Bellen, hat aber bei genauerem Hinsehen doch nur tierisch Schiß und braucht sehr lange und viel gutes Zureden und das Ablegen von Rucksack und Mütze, um sich endlich zum Streicheln in die Nähe zu trauen. Nachdem ich erstmal bei den kaffeetrinkenden Nachbarinnen in den Wintergarten gestolpert bin, kommt der Wirt lachend um die Ecke und holt mich da raus. Zur Begrüßung gibt es - aah - ein kaltes Bier für mich und ihn und ich gönne ihm sofort, daß heute alle seine Zimmer ausgebucht sind. Später muß ich ihn allerdings dabei belauschen, wie er alles und jedem auf dem Hof meine Geschichte erzählt. Das kann ja heiter werden morgen beim Frühstück...

Und Abends: Ein jähes Geschenk! Im Dorf gibt es wohl eine Dorfpizzeria, die ich in einem Nebensatz der Wirtin entdecke. Und tatsächlich: Obwohl alle Stühle auf der Terrasse zusammengestellt sind, hat die Pizzeria doch netterweise ein paar leere Flaschen auf die Tische gestellt, um zu signalisieren, daß geöffnet ist. Ich bestelle Salat und Pizza -- alles andere auf der Karte würde man wohl in keiner Dorfpizzeria essen wollen. Dazu Bier. Nichts ist besser als ein warmes Abendessen, wenn man damit gerechnet hat, hungrig ins Bett gehen zu müssen. Ich beobachte noch ein bißchen den Kellner hinter dem Tresen und rätsele, welchem Beruf er wohl im echten Leben nachgeht und muß aufpassen, mich nicht beim Starren erwischen zu lassen.

Auf der Viertelstunde Weg zurück zu meinem Bauernhof schaue ich den Schatten der Hügelketten zu, wie sie über letzten Häuser am Hang hinwegwandern und schließlich das ganze Tal in die Stille sinkt. Der Wind treibt Fetzen von Sommergerüchen an mir vorbei und plötzlich fühlt sich alles an wie ein etwas zu kühler Abend Anfang Juni.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen