Donnerstag, 26.04.2012
Sanilhac nach Mercuer
6 h / 24 km
Beim Weg über die Straße zum
Frühstück wartet schon der Hotelhund auf mich und fordert erstmal
Aufmerksamkeit. Soll er kriegen... Im Frühstücksraum wartet Dampf,
denn der Eierkochautomat kocht fleißig vor sich hin und verströmt
ein gut gemeintes Aroma von Essig, das jemand gegen Kalkablagerungen
in den Eierkocher gepackt hat. Aber immerhin: Mein erstes
Frühstücksei seit Wochen. Und Obstsalat. Und Joghurt zum
Niederknien. Das wird ein guter Tag.
Sanilhac ist ein hübsches kleines
Dorf, wie ich es inzwischen schon unzählige Male gesehen habe und von dem keine Erinnerung bleibt. Nichts außer einer Kirche, einem Briefkasten und einem kleinen
Rathaus, in dem irgendwas verwaltet wird, worum sich sonst niemand
kümmert. Im Tal dahinter ein geschlossener Campingplatz und der
Geruch von langsam vor sich hin kohlendem Gestrüpp, das die Rentner
hier gerade in ihren Gärten verbrennen. Vorbei an Weinbergen und
Kastanienplantagen. Vorbei an der "Châtaigneraie", meiner
zweiten Übernachtungsoption für letzte Nacht, die ich nicht weiter
in Erwägung gezogen hatte, weil ich unbedingtunbedingtunbedingt in
der Aussichtsherberge absteigen wollte. Jetzt ärgere ich mich. Die
Châtaigneraie ist ein imposanter Steinbau oben im Tal, mit genauso
schöner Aussicht und halb so teuren Zimmern. Als ich den kleinen Weg
an ihrem Parkplatz vorbeigehe, erwischen mich die zwei Haushunde und
wollen aber nach zwei Minuten bellen doch wieder nur schmusen. Die
Besitzerin schaut aufgeschreckt über die Mauer der Kastanienbude,
entschuldigt sich für die Hunde und fragt, wo ich hin will. Als ich
mich vergewissern will, ob der Weg wirklich hier quer über den
Parkplatz geht, winkt sie mich schnell rein und versorgt mich mit
einer vergrößerten Kartenkopie, in der quasi ein kleiner Geheimweg
zwischen den Weinbergen hindurch nach Montréal beschrieben ist.
Jetzt ärgere ich mich richtig, daß ich nicht hier übernachtet
habe...
Der Weg schlängelt sich auf schmalen
Fußpfaden durch die Weinberge, vorbei an einzelnen Häusern und
Waldstücken. Ständig muß ich stehenbleiben und bewundere die
Aussicht bzw. beäuge insgeheim neidisch die schönen Steinhäuser
mit ihren riesigen Terrassen, auf denen man sicher abends schön bei
einem schwer alkoholischen Sommergetränk das Panorama genießen
kann. Bei vielen Häusern geht mir - wie in den letzten Tagen immer
wieder - der sehnsuchtsvolle Satz "Kann ich hier bitte wohnen?"
durch den Kopf.
Auf dem Weg nach Montréal dreht die
Natur dann vollends durch. Hier unten ist der Frühling schon fast
wieder durch. Ich sehe blühende Orchideen, die Kirschbäume haben
schon fingernagelgroße grüne Früchte an den Ästen, und überall
hört man die Hummeln und Bienen. Das Château lasse ich links liegen
und steige nach Largentière ab, beobachte dabei noch, wie sich ein
Kühllaster und ein Peugeot Kombi konspirativ auf dem Parkplatz
treffen und dem Kühllaster dabei quasi ein paar Styroporkisten
Ladung von der Ladefläche direkt in den Kombi fallen.
Largentière macht einen bitteren
Eindruck: Ein Gewirr von Tunneln und Brücken und Viadukten und
Röhren. Das Erste, was ich von dem Ort sehe, ist die
Gendarmeriestation, ihr Funkmast und ein für dieses
2.000-Einwohner-Kaff recht stattliches Kleingefängnis. Am Supermarkt
laufe ich unbegreiflicherweise vorbei, ohne einzukaufen. Am Bäcker
laufe ich gedankenlos vorbei, ohne nach Törtchen zu gucken. An allen
Cafés laufe ich schnurstracks vorbei, ohne mich zum Mittagessen
hinzusetzen. Die historische Altstadt hake ich ab, ohne die
angemessene Anzahl von Fotos zu machen. Dem Château gönne ich nur
noch einen kurzen Blick von der Hauptstraße aus.
Als ich durch den Ort durch bin, weiß
ich plötzlich wieso. Das war die erste richtige Kleinstadt mit
Autoverkehr, Läden und Fußgängern seit einer Woche. Nach der Leere
und der Stille der Berge war zum ersten Mal wieder konstanter
Verkehrslärm zu hören, mußte ich zum ersten Mal wieder auf einem
Bürgersteig statt einfach auf der Straße laufen und plötzlich bin
ich froh, daß ich durch Largentière einfach durchgeschlüpft bin.
Das Glückskind findet statt dessen
kleine Pfade und Treppen durch die Hanggärten hoch nach Chassiers.
Das Wetter ist richtig schön geworden, manchmal scheint sogar die
Sonne. Nur beim Blick zurück in Richtung Berge, wo ich hergekommen
bin, sieht alles nach Weltuntergang aus. Die letzten Stunden bis zu
meiner Bauernhofunterkunft ein paar Kilometer vor Aubenas ärgere ich
mich nun doch ein bißchen, daß ich mir nichts zu Essen besorgt
habe, denn die gute Wirtin hatte am Telefon schon klargemacht: Zimmer
gerne, Abendessen non. Wenigstens hatte ich Zeit, mich darauf
einzustellen und spare mir die letzten zwei KitKat als Abendessen zum
Leitungswasser auf.
Der Hofhund empfängt mich schon auf
einen halben Kilometer mit imposantem Bellen, hat aber bei genauerem
Hinsehen doch nur tierisch Schiß und braucht sehr lange und viel
gutes Zureden und das Ablegen von Rucksack und Mütze, um sich
endlich zum Streicheln in die Nähe zu trauen. Nachdem ich erstmal
bei den kaffeetrinkenden Nachbarinnen in den Wintergarten gestolpert
bin, kommt der Wirt lachend um die Ecke und holt mich da raus. Zur
Begrüßung gibt es - aah - ein kaltes Bier für mich und ihn und ich
gönne ihm sofort, daß heute alle seine Zimmer ausgebucht sind.
Später muß ich ihn allerdings dabei belauschen, wie er alles und
jedem auf dem Hof meine Geschichte erzählt. Das kann ja heiter
werden morgen beim Frühstück...
Und Abends: Ein jähes Geschenk! Im
Dorf gibt es wohl eine Dorfpizzeria, die ich in einem Nebensatz der
Wirtin entdecke. Und tatsächlich: Obwohl alle Stühle auf der
Terrasse zusammengestellt sind, hat die Pizzeria doch netterweise ein
paar leere Flaschen auf die Tische gestellt, um zu signalisieren, daß
geöffnet ist. Ich bestelle Salat und Pizza -- alles andere auf der
Karte würde man wohl in keiner Dorfpizzeria essen wollen. Dazu Bier.
Nichts ist besser als ein warmes Abendessen, wenn man damit gerechnet
hat, hungrig ins Bett gehen zu müssen. Ich beobachte noch ein
bißchen den Kellner hinter dem Tresen und rätsele, welchem Beruf er
wohl im echten Leben nachgeht und muß aufpassen, mich nicht beim
Starren erwischen zu lassen.
Auf der Viertelstunde Weg zurück zu
meinem Bauernhof schaue ich den Schatten der Hügelketten zu, wie sie
über letzten Häuser am Hang hinwegwandern und schließlich das
ganze Tal in die Stille sinkt. Der Wind treibt Fetzen von
Sommergerüchen an mir vorbei und plötzlich fühlt sich alles an wie
ein etwas zu kühler Abend Anfang Juni.
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