Samstag, 28. April 2012

Zurück in der Landstraßensonne.

Freitag, 27.04.2012
Mercuer nach Saint-Jean-le-Centenier (oder besser: Route Nationale 102)
7 h / 28 km

Beim Frühstück sitzen sie schon, die wartenden Massen und ich holpere ihnen in meinem Kleinfranzösisch die Kurzversion meiner Urlaubsbeschäftigung hin. Gott sei Dank hält das nur für ein paar Minuten und danach darf ich während ich mein Marmeladenbaguette kaue das tun, was ich am liebsten mache: Französischen Konversationen zuhören. Und zusehen.

Die "petite randonée" beginnt gleich vor der Haustür. Hier ist schon sehr lange niemand gegangen. Auf dem pittoresken kleinen Weg zwischen den Feldern durch wächst inzwischen mannshoch das Gestrüpp, ich pflüge mich die ersten paar hundert Meter bis zum Hang rückwärts mit dem Rucksack voran durch den grünen Filz.

Aubenas ist häßlich und laut und riecht. Gut, ich rieche sicherlich auch, wie ich an dem respektvollen Abstand der Warteschlange in der Bäckerei mal wieder vor Augen geführt bekomme. Dabei habe ich erst vorgestern das Hemd gewaschen... Boulangerie / Pâtisserie heißt Chance auf Törtchen und trotz gutem Frühstück muß ich zugreifen. Wie ein Fuchs mit heimlicher Beute im Maul laufe ich mit der Törtchenschachtel durch Aubenas und suche einen schönen Platz zum Futtern. Als ich an dem angepeilten Fußweg den Hang runter ankomme (an dem man doch mit Sicherheit auch eine Parkbank vermuten darf), steht oben schon eine Oma mit Hund und guckt und staunt. Mich an. Sie muß sich sogar mit der Hand die Sonne abschirmen, weil sie es nicht glauben mag, daß da einer mit Rucksack... Was mir sowas von egal ist.

Auf der anderen Seite der Ardèche verlaufe ich mich am Flußufer, irre über den Hinterhof eines VW-Händlers und scheitere an diversen Eisentoren, laufe ziellos über die große Wiese und frage schließlich über den Zaun hinweg eine Frau, die gerade in ihrer Einfahrt ihre Einkäufe aus dem Auto lädt, wie ich auf die Straße komme, die nur 20 Meter hinter ihr breit und offen daliegt. Ach, da links und da über die Brücke und dann beim Sportplatz. Ob ich nicht einfach durch das Türchen hier in ihrem Zaun? Non, c'est fermé. Na, danke.

Kurz darauf kriege ich trotzdem, was ich will. Nachdem ich keine Lust habe, heute den ganzen Tag an der Straße entlang zu laufen, suche ich abenteuerlustig weiter nach kleinen Pfaden am Fluß entlang und werde schwer fündig. Hinter einem dunklen Torbogen aus Stein tut sich eine helle Gartenlandschaft auf, neben einem kühlen kleinen Parallelkanal zur Ardèche ziehen sich fast zugewachsene Wege durch Bambuswäldchen, an Gärten vorbei und überall surren die Insekten. Ich genieße, stehe zwar am Ende wieder auf der Straße, aber mit 2 Kilometern Genuß im Bauch.



Ein paar Kilometer weiter die Straße runter ändert sich das Bild. Ich klettere auf eine steinige Hochebene, deren Pflanzen man ansieht, daß da im Sommer nicht viel Wasser zu holen ist. Es gibt einen Wegweiser, wo ich keinen vermutet hätte und bei allem Übermut folge ich erstmal dieser Art Pfad da drüben, den ich für richtig halte. Durch Unterholz und kleine Bäume und überhaupt alles, was einem die Orientierung nimmt. Zehn Minuten später sagt mir mein Bauchgefühl, daß das nicht gutgeht. Nochmal zehn Minuten später bin ich soweit, daß ich umdrehe und in dem Moment des Umdrehens verliere ich prompt die Orientierung. Ich preise dem Umstand, daß ich seit Wochen meinen Kompaß nutzlos mit mir rumschleppe und suche mir einen Weg zurück. Als ich die Straße und das erste Auto höre, ist es wieder ganz einfach.

Danach folgen viele kleine Täler, die ich alle durchqueren darf. Eines ist frühlingshaft grün und saftig, das Nächste ist staubig-grau, dahinter kommt wieder die Toskana-Postkarte mit Weinbergen und Obstbäumen und zum Schluß das Tal mit den Fröschen, die ich noch fast einen Kilometer weiter Alarm schlagen höre. Es folgt das Tal mit den häßlichen Neubauten und dann die Straße, ab der ich wieder auf der Straße gehen muß.

Die D459 ist heiß und windstill und meine Wasserflaschen sind schon lange leer. Seit gestern endlich schwitze ich wieder in der schattenlosen Landstraßensonne und bin immer noch fassungslos, daß es tatsächlich warm ist. An der großen Kreuzung, wo meine Karte mir sagt, daß ich irgendwie komisch abbiegen muß, gibt es an der Route Nationale eine Art Rasthof, ich renne darauf zu, gebadet in Schweiß, reiße zwei kleine Flaschen Cola aus dem Kühlschrank, könnte den Typen vor mir, der zwei Lottolose kaufen und für zwölf Lottolose plaudern will, vor Zeugen erwürgen, zahle meine Cola, stürze nach draußen, ringe mir noch zwanzig Sekunden bis zum nächsten Picknicktisch ab, werfe meinen Rucksack auf den Boden -- und setze mich hin. Lasse den Wind über das nasse Hemd blasen. Trinke den ersten Schluck und werde ganz ruhig.

Die letzte halbe Stunde suche ich mein Hotel, das sich zwischen Schnellstraßenauffahrten und Hügeln versteckt, aber das ist egal. Die kalte Cola hat dafür gesorgt, daß alles ab jetzt nur noch Bonus ist. Oben an der Kreuzung treffe ich den Bauern mit seinem alten Traktor wieder, den ich vorhin im Weinfeld gesehen habe. Wir erkennen uns an einem kurzen Nicken und Verziehen des Mundwinkels. Und über ein Stück vergessene Straße, die früher mal den Glanz der Route Nationale getragen hat, bevor die neue Straße gebaut wurde, finde ich - stilecht über den Personalparkplatz - mein Hotel, auf dessen Gästeparkplatz kein einziges Auto steht.

Alles was ich will, ist meine Arme und meinen Kopf unter kaltes Wasser stecken. Die Dusche und das offene Fenster tragen dafür Sorge, daß ich mich von einem laufenden schwitzenden Wesen wieder in einen Menschen verwandele, später fühle ich mich sogar bereit für ein Abendessen. Gehobener Standard. Fernstraßenhotel, aber sehr gut gemacht. 

Draußen rauschen lautlos die Autos auf der vierspurigen Nationalstraße vorbei. Wo wollen die alle hin? Warum sind die alle so schnell? Bin ich noch einer von ihnen?

Ich belächele die Armada der weißen Autos auf dem Hotelparkplatz, habe Mitleid mit dem gebügelten Kind, das sich zu benehmen weiß, das mit seinen furchtbaren Eltern, für die es sich eines Tages schämen wird, aus dem weißen X3 aussteigt und wünsche mir nichts sehnlicher, als irgendwo draußen alleine in der Dämmerung zu sitzen.

Und plötzlich ist der Gedanke da. Der, auf dessen Erscheinen ich schon ganz still gewartet habe. Und danach? Wie zurückgehen in ein Leben, dessen Einzelteile ich zwar vermisse, dessen Gesamtheit aber tagtäglich in tausendfacher Ausführung an mir vorbeirauscht und mir nur noch Befremden oder Ironie entlockt? Wie einfach nach Hause kommen und alles weiter wie vorher? Die Größe dieser Frage nimmt mir die Ruhe und ich bin froh, daß es draußen dunkel ist und ich die Autos nicht mehr sehen muß und daß mein Essen aufgegessen ist und ich alleine in mein stilles Zimmer gehen kann. Meine Schritte werden vielleicht irgendwann eine Antwort finden. Draußen zirpen die Grillen.

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