Valgorge nach Sanilhac
7 h / 21 km
Der Vorteil an Épicerien: Man kann eben mal schnell am Arsch der Welt was Einkaufen. Der Nachteil: Es kostet dich dein ganzes Geld. Für eine Flasche Orangina, eine Schachtel Kekse und eine Tafel Schokolade knöpft mir das lustlose Ding hinter dem Tresen des einzigen Laden von Valgorge über 8 EUR ab. Der Wanderer seufzt und genießt den Luxus.
Ich hab mir heute die harte Variante ausgesucht -- warum, weiß ich auch nicht mehr. Zum Frühstück gibt es 500 Meter Aufstieg und es dauert keine halbe Stunde, bis der Schweiß kocht und ich den Rucksack hinschmeiße und die lange Hose gegen die Shorts tausche. Überall Wühlspuren von Wildschweinen, überall Kastanienbäume. Bergauf vorbei an eingestürzten Häusern mit dem Gefühl, daß hier schon sehr lange niemand mehr gewesen ist. Oben am Forstweg wird's wieder gemütlich. Es geht zwar immer noch bergauf, aber ich habe die Hände locker in der Hosentasche und außerdem Aussicht.
Eine Stunde später am Sommet de l'Abitarelle kann man noch viel besser auf die an das Tal anschließende Hügellandschaft gucken und während ich gucke, sehe ich dahinter --- die Alpen. Ganz hinten im Nordosten sieht man schneebedeckte Berge wie eine Mauer nebeneinander aufgereiht. Ich stehe lange und gucke und staune und wundere mich, wie sehr Entfernungen zusammenschnurren können. All das sieht so nah und nach mal eben aus, wird aber noch mindestens 10 Tagesmärsche kosten. Es wird kalt im Wind, ich reiße mich los und steige ab ins Tal.
Auf dem Weg nach unten wird immer deutlicher, warum das hier das große Kastanienland mit Kastanienfest, Kastanienlikör und Kastanienmaskottchen ist. Kastanien überall. Im Wald zwischen den Tannen. In alten verlassenen Gärten und ehemaligen Plantagen am Hang. In den Dörfern. Uralte Bäume, manchmal zu bizarren Gebilden verdreht und von jungen Schößlingen umringt. Baumskelette, von Blitzen und Bränden verzehrt, aber immer noch voller Leben und mit frischen Trieben und Blüten an den Spitzen. Der Weg schlängelt sich wieder auf alten Pfaden zwischen den Gärten und Häusern durch, hinter La Roche laufe ich durch riesige Kastanienhaine mit alten Bäumen, ein Schäfer treibt gerade seine Herde hindurch und die Idylle ist perfekt.
Wieder im Zeitraffer vom Winter zum Frühling. Am steilen Hang auf dem Abstieg zur Brücke über die Baume duftet und grünt es in allen Ecken und Spalten. Ich lasse mich ablenken und stolpere ein paar Mal ekelig auf dem losen Geröll und ich spüre die zusätzlichen Kilos des Rucksacks zu meinem eigenen - durchaus ausreichenden - Gewicht. Jeden Schritt prügelt sich in die Knie und Gelenke. Und unten an der Brücke das alte bittere Spiel: Nur kurz über den Fluß und sofort wieder hoch. Ich hatte vor lauter "naja, der Tag wird nicht so lang" gar nicht richtig auf die Karte geguckt, was für ein saftiger Anstieg mich erwartet. Geradeaus auf dem Kamm auf den Tour de Brison zu, ein Turm auf dem Gipfel. Sofort nach der Brücke verirre ich mich erstmal in den Schafspfaden und kraxele in die vollkommen falsche Richtung. Der richtige Weg ist allerdings auch nicht viel besser. Die erste halbe Stunde geht es steil bergauf, ich quäle mich auf allen Sechsen die Felsen hoch. Mit dem Rucksack ist das echte Knochenarbeit. Norwegischer Aufstieg: Geradeaus den Hang hoch, keine Serpentinen. Wo auch? Links und rechts fallen die Hänge steil in dicht bewaldete Täler ab und über allem thront und grient der Turm, der trotz aller Quälerei nicht näher kommt.
Ich treffe auf Ruinen von kleineren Nebentürmen, die den Tour de Brison im 12. Jahrhundert bei der Überwachung der umliegenden Ländereien und ihrer Minen unterstützt haben. Auf endlose Steinmauern auf dem steilen Kamm. Auf Regen, der mich von hinten einholt. Und zu meiner Überraschung auf gut zehn Rentnerinnen und Rentner, die mir am steilsten Stück entgegenkommen. Ich kann sie schon ein paar Minuten vorher hören, das helle Klack-Klack-Klack ihrer Wanderstöcke auf den Felsen verrät sie. Ich grüße freundlich und wünsche ihnen im Stillen viel Glück beim Abstieg auf den nassen Felsen.
Im Regen finde ich ein trockenes Plätzchen. Ein großer Felsen hinter mir hält den Wind ab, ein großer Baum über mir den Regen. Ich esse meinen letzten Apfel und ein Stück Schokolade und bin froh, für ein paar Minuten einfach nur in den Regen und in die Wolken zu gucken.
Oben angekommen, versaut mir der scharfe Wind den größten Teil der Belohnung. Zwei schnelle Fotos, drei schnelle Blicke in die Ferne, das muß reichen. In den Bergen im Westen ist alles dunkelgrau und wolkenverhangen, weit im Osten über dem Rhônetal reißen die Wolken langsam auf, dahinter leuchtet dramatisch die Wolken über den dunklen Schatten der Bergketten. Ich fühle mich hier oben schutzlos und verloren, ziehe den Rucksack enger und mache mich an den Abstieg.
Nur noch eine kleine Stunde und ich stehe vor dem Hotel, das ich mir schon in meinen Notizen als besonders gekennzeichnet habe. Ich hatte es auf Google Streetview gesucht, weil ich nicht sicher war, ob es wirklich existiert (Stichwort für Google Streetview: "auberge de la tour be brison, sanilhac"). Und beim Schwenken der Ansichtsrichtung knallte mir ein Panorama ins Gesicht, das sich eingegraben hat. Die Realität ist besser. Ich biege ab auf eine kleine Straße, auf der bis zum nächsten Morgen genau zwei Autos fahren werden, laufe ein Stück Straße entlang, das ich schon kenne und muß mir erstmal ein paar Minuten die Aussicht anschauen, bevor ich mich dem schmusebedürftigen Hund vor der Eingangstür widme und dann endlich ankomme.
Eigentlich ist mir der Laden ein bißchen zu teuer, aber beim Abendessen merke ich, daß mir jede Ausrede recht gewesen wäre, um einfach nur mit einem Glas Wein im Warmen zu sitzen und die langsam im Dunkel versinkenden Berge anzusehen. Ich denke an diesem Abend oft darüber nach, welche Landschaften mich mit ihren Extremen bisher so fasziniert haben wie die Ardèche.
Viele sind es nicht...
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