Samstag, 21.04.2012
Le Bleymard nach La Bastide-Puylaurent
9 h / 33 km
Nachts: Regen. Sonnenaufgang: Regen.
Als ich aufstehe: Regen. Beim Frühstück: Regen. Bis zum Frühstück
war das eine gefühlte Kleinkatastrophe, in dem Moment aber, als ich
den Frühstückssaal betrete, pocht mein kleines Herz ganz laut. Auf
mich wartet nicht etwa der lieblos vorbereitete
"ein-Croissant-zwei-Stück-Baguette-Teller-mit-einem-Stück-Butter-und-zwei-Päckchen-Marmelade",
sondern ein amtliches Frühstücksbuffet. Mein neues Lieblingshotel
hat einfach mal gütig das Buffet gedeckt, als würden hier gleich
noch 12 andere Leute reinmarschieren. Dem ist aber nicht so, ich bin
der einzige Gast."Du bist vielleicht alleine, Wanderer",
flüstert es, "aber das muß ich dir ja nicht auch noch aufs
Brot schmieren. Du sollst dich wohlfühlen." Da steht
hausgemachter Apfelsaft und das Kiloglas Nutella und Brot bis zum
Abwinken und überhaupt. Alleine die Geste, daß auch für einen
einzelnen Gast das volle Programm aufgefahren wird, rührt mich
zutiefst.
Während ich mampfe, sehe ich draußen
den ersten Wanderer in voller Regenmontur mit entnervtem Gesicht auf
die Bar unten im Haus zusteuern, um im Trockenen einen Kaffee zu
trinken. Und eine Viertelstunde, bevor ich fertig gepackt habe, hört
es auf zu regnen.
Ich verlasse das Haus mit großen
Komplimenten, die der gute Mann an der Rezeption lächelnd und
entspannt entgegen nimmt. In der Fremde brauche ich keinen
Spabereich, keine Schuhputzmaschine und keine Bonbons auf dem
Kopfkissen. Seit Wochen fühle ich eine starke Dünnhäutigkeit, die
mich innerlich vor Glück strahlen läßt, wenn der Bauer zurückgrüßt
oder mir der alte Mann auf dem langen Aufstieg ein "Daumen hoch"
gibt. Das sind Momente, in denen mir in all der Einsamkeit jemand
seinen Segen gibt. Seine Zustimmung. Ist gut so. Diese Dünnhäutigkeit
braucht freundliche Worte, um nicht aufzureißen. Aus diesem Hotel
nehme ich einige davon mit.
Überall Wanderer. Vor dem Dorfladen
Wanderer. Beim Aufstieg Wanderer. Tonnenweise Fußspuren auf dem
Boden. Ist hier irgendwas los oder ist nur Wochenende?
Eine Stunde später stehe ich an der
unspektakulären Lot-Quelle. Fünf Tagesmärsche westlich von hier
ist dieses Rinnsal ein stattlicher Fluß, der tiefe Schluchten aus
dem Gestein gewaschen hat. Und er ist auch der kilometerlange
Stausee, an dem ich meinen Motivationstiefpunkt erlebt habe. Hier
entspringt er einer matschigen Wiese am Hang, in den Pfützen sammelt
sich das Wasser und die Schüler der örtlichen Schule haben einen
Wanderweg samt Brücklein und Geländer und Schild angelegt. Schnell
weiter.
Wie so oft in den letzten Tagen folge
ich für viele Kilometer einem Weg oben auf dem Hügelkamm. Weite
Sicht runter ins Tal, auf die Regenwolken über den Cevennen, auf die
baumlosen Hügelkuppen, mit Moos und Krüppelkiefern bewachsen. Auf
schlängelnde Wege, auf einsame Bauernhöfe zwischen den Feldern und
Hängen. Karges Land, es duckt sich vor dem Wind weg und hofft auf
den Sommer. Der Weg ist naß und matschig vom Regen der letzten
Woche, abwechselnd saugt der Wald sich bei den kurzen Schauern mit
Wasser voll, danach dampft er wieder in kurzen Sonnenmomenten. Der
Wind zaust mich von der Seite und auf all den einsamen Kilometern
sieht Frankreich immer mehr aus wie Norwegen oder Schottland.
Beim Abstieg nach Prévenchères setzt
dann der Regen wieder ein. Diesmal richtig. Schutzlos schwanke ich
auf der offenen Hochfläche im Wind und kann spüren, wie meine
Klamotten trotz Regenmontur immer klammer und kälter werden. Unter
einem Baum finde ich eine trockene Stelle und setze mich für einen
kurzen Schluck aus der Wasserflasche und ein Stück Schokolade. Der
trostlose Ausblick und die Kälte treiben mich aber schnellstens
weiter. Vom rumsitzen wird's nicht besser...
Unten im Dorf freue ich mich später
über zwei im Regen flanierende alte Damen, dahinter verpasse ich den
richtigen Weg und steige voller blindem Glauben an die falsche
Markierung in das falsche Tal ab. Auf dem Weg zurück legt der Regen
nochmal einen Zahn zu, so daß langsam wieder die Phase der
Verzweiflung einsetzt. Wenn der Wind den Regen bis unter die Kapuze
treibt. Wenn man spürt, wie die dicken Tropfen kalt auf die Hose
fallen und sich alles vollsaugt. Wenn das Wasser auf der Jacke bis zu
den Ärmeln hinunterläuft und dann zum Abschied eisig über die
klammen Finger tropft. Um all dem wenigstens für ein paar Minuten zu
entgehen, kauere ich erst unter einem, dann unter dem nächsten Baum
und mache mich ganz klein. Trotzdem findet mich der Regen sofort. So
macht das doch keinen Spaß. Ein paar Minuten später siegt die
Vernunft: Weiter. Vom Sitzen und Trübsal blasen ist noch niemand aus
dem Regen und schon gar nicht angekommen.
Eine halbe Stunde später kommt
vorsichtig die Sonne durch die Wolken, es dauert aber nochmal eine
Stunde, bevor es wirklich aufhört zu regnen. Ich kämpfe schon
wieder mit mir, ob ich den Rest des Weges auf der Straße zurücklegen
soll (läuft sich schneller, läuft sich kopfleerer), aber ich reiße
mich zusammen. Zwei Kilometer weiter werde ich mit einem uralten Weg
belohnt, den es schon seit dem Mittelalter gibt. Die unzähligen
Karren und Fuhrwerke haben über die Jahrhunderte tiefe Furchen im
Schiefer hinterlassen.
Ein paar Kilometer später stoße ich
auf ein anderes Überbleibsel: Eine alte Landstraße im Wald,
vergessen und nicht mehr benutzt. Achtlos liegen gelassen wie ein
abgelegtes Spielzeug windet sie sich noch immer am Hang entlang, an
verlassenen Häusern vorbei. Das Weiß der Mittelmarkierung scheint
manchmal noch fahl durch den Schmutz der Straße, der Asphalt löchrig
und aufgerissen. Eine Straßenruine.
Wieder ein Tag, der am Ende deutlich
länger wurde, als ich mir das gewünscht hatte. Nach neun Stunden
werfe ich meinen Rucksack in einem schrottigen Dorfhotel bei einer
Wirtin mit fehlenden Zähnen ab, hechte noch schnell in den Laden
nebenan, um kurz vor Ladenschluß noch ein paar Getränke für die
nächsten Tage zu kaufen. Beim Abendessen macht eine 16-köpfige
Wandergruppe Stimmung im Speisesaal, das Rentnerpäarchen am Tisch
neben mir ist genervt von so viel Leben und wechselt von Französisch
zu Deutsch, um insgeheim über die Truppe herzuziehen. Ich verabschiede
mich mit einem Kompliment für ihr gutes Deutsch und gehe feixend
schlafen.
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