Montag, 23. April 2012

Schön, aber zu lang.


Samstag, 21.04.2012
Le Bleymard nach La Bastide-Puylaurent
9 h / 33 km

Nachts: Regen. Sonnenaufgang: Regen. Als ich aufstehe: Regen. Beim Frühstück: Regen. Bis zum Frühstück war das eine gefühlte Kleinkatastrophe, in dem Moment aber, als ich den Frühstückssaal betrete, pocht mein kleines Herz ganz laut. Auf mich wartet nicht etwa der lieblos vorbereitete "ein-Croissant-zwei-Stück-Baguette-Teller-mit-einem-Stück-Butter-und-zwei-Päckchen-Marmelade", sondern ein amtliches Frühstücksbuffet. Mein neues Lieblingshotel hat einfach mal gütig das Buffet gedeckt, als würden hier gleich noch 12 andere Leute reinmarschieren. Dem ist aber nicht so, ich bin der einzige Gast."Du bist vielleicht alleine, Wanderer", flüstert es, "aber das muß ich dir ja nicht auch noch aufs Brot schmieren. Du sollst dich wohlfühlen." Da steht hausgemachter Apfelsaft und das Kiloglas Nutella und Brot bis zum Abwinken und überhaupt. Alleine die Geste, daß auch für einen einzelnen Gast das volle Programm aufgefahren wird, rührt mich zutiefst.

Während ich mampfe, sehe ich draußen den ersten Wanderer in voller Regenmontur mit entnervtem Gesicht auf die Bar unten im Haus zusteuern, um im Trockenen einen Kaffee zu trinken. Und eine Viertelstunde, bevor ich fertig gepackt habe, hört es auf zu regnen.

Ich verlasse das Haus mit großen Komplimenten, die der gute Mann an der Rezeption lächelnd und entspannt entgegen nimmt. In der Fremde brauche ich keinen Spabereich, keine Schuhputzmaschine und keine Bonbons auf dem Kopfkissen. Seit Wochen fühle ich eine starke Dünnhäutigkeit, die mich innerlich vor Glück strahlen läßt, wenn der Bauer zurückgrüßt oder mir der alte Mann auf dem langen Aufstieg ein "Daumen hoch" gibt. Das sind Momente, in denen mir in all der Einsamkeit jemand seinen Segen gibt. Seine Zustimmung. Ist gut so. Diese Dünnhäutigkeit braucht freundliche Worte, um nicht aufzureißen. Aus diesem Hotel nehme ich einige davon mit.

Überall Wanderer. Vor dem Dorfladen Wanderer. Beim Aufstieg Wanderer. Tonnenweise Fußspuren auf dem Boden. Ist hier irgendwas los oder ist nur Wochenende?

Eine Stunde später stehe ich an der unspektakulären Lot-Quelle. Fünf Tagesmärsche westlich von hier ist dieses Rinnsal ein stattlicher Fluß, der tiefe Schluchten aus dem Gestein gewaschen hat. Und er ist auch der kilometerlange Stausee, an dem ich meinen Motivationstiefpunkt erlebt habe. Hier entspringt er einer matschigen Wiese am Hang, in den Pfützen sammelt sich das Wasser und die Schüler der örtlichen Schule haben einen Wanderweg samt Brücklein und Geländer und Schild angelegt. Schnell weiter.

Wie so oft in den letzten Tagen folge ich für viele Kilometer einem Weg oben auf dem Hügelkamm. Weite Sicht runter ins Tal, auf die Regenwolken über den Cevennen, auf die baumlosen Hügelkuppen, mit Moos und Krüppelkiefern bewachsen. Auf schlängelnde Wege, auf einsame Bauernhöfe zwischen den Feldern und Hängen. Karges Land, es duckt sich vor dem Wind weg und hofft auf den Sommer. Der Weg ist naß und matschig vom Regen der letzten Woche, abwechselnd saugt der Wald sich bei den kurzen Schauern mit Wasser voll, danach dampft er wieder in kurzen Sonnenmomenten. Der Wind zaust mich von der Seite und auf all den einsamen Kilometern sieht Frankreich immer mehr aus wie Norwegen oder Schottland.

Beim Abstieg nach Prévenchères setzt dann der Regen wieder ein. Diesmal richtig. Schutzlos schwanke ich auf der offenen Hochfläche im Wind und kann spüren, wie meine Klamotten trotz Regenmontur immer klammer und kälter werden. Unter einem Baum finde ich eine trockene Stelle und setze mich für einen kurzen Schluck aus der Wasserflasche und ein Stück Schokolade. Der trostlose Ausblick und die Kälte treiben mich aber schnellstens weiter. Vom rumsitzen wird's nicht besser...

Unten im Dorf freue ich mich später über zwei im Regen flanierende alte Damen, dahinter verpasse ich den richtigen Weg und steige voller blindem Glauben an die falsche Markierung in das falsche Tal ab. Auf dem Weg zurück legt der Regen nochmal einen Zahn zu, so daß langsam wieder die Phase der Verzweiflung einsetzt. Wenn der Wind den Regen bis unter die Kapuze treibt. Wenn man spürt, wie die dicken Tropfen kalt auf die Hose fallen und sich alles vollsaugt. Wenn das Wasser auf der Jacke bis zu den Ärmeln hinunterläuft und dann zum Abschied eisig über die klammen Finger tropft. Um all dem wenigstens für ein paar Minuten zu entgehen, kauere ich erst unter einem, dann unter dem nächsten Baum und mache mich ganz klein. Trotzdem findet mich der Regen sofort. So macht das doch keinen Spaß. Ein paar Minuten später siegt die Vernunft: Weiter. Vom Sitzen und Trübsal blasen ist noch niemand aus dem Regen und schon gar nicht angekommen.

Eine halbe Stunde später kommt vorsichtig die Sonne durch die Wolken, es dauert aber nochmal eine Stunde, bevor es wirklich aufhört zu regnen. Ich kämpfe schon wieder mit mir, ob ich den Rest des Weges auf der Straße zurücklegen soll (läuft sich schneller, läuft sich kopfleerer), aber ich reiße mich zusammen. Zwei Kilometer weiter werde ich mit einem uralten Weg belohnt, den es schon seit dem Mittelalter gibt. Die unzähligen Karren und Fuhrwerke haben über die Jahrhunderte tiefe Furchen im Schiefer hinterlassen.

Ein paar Kilometer später stoße ich auf ein anderes Überbleibsel: Eine alte Landstraße im Wald, vergessen und nicht mehr benutzt. Achtlos liegen gelassen wie ein abgelegtes Spielzeug windet sie sich noch immer am Hang entlang, an verlassenen Häusern vorbei. Das Weiß der Mittelmarkierung scheint manchmal noch fahl durch den Schmutz der Straße, der Asphalt löchrig und aufgerissen. Eine Straßenruine.


Wieder ein Tag, der am Ende deutlich länger wurde, als ich mir das gewünscht hatte. Nach neun Stunden werfe ich meinen Rucksack in einem schrottigen Dorfhotel bei einer Wirtin mit fehlenden Zähnen ab, hechte noch schnell in den Laden nebenan, um kurz vor Ladenschluß noch ein paar Getränke für die nächsten Tage zu kaufen. Beim Abendessen macht eine 16-köpfige Wandergruppe Stimmung im Speisesaal, das Rentnerpäarchen am Tisch neben mir ist genervt von so viel Leben und wechselt von Französisch zu Deutsch, um insgeheim über die Truppe herzuziehen. Ich verabschiede mich mit einem Kompliment für ihr gutes Deutsch und gehe feixend schlafen.

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