Donnerstag, 19. April 2012

Klimazonen in a nutshell.

Mittwoch, 18.04.2012
Col du Trébatut nach Marvejols
5,5 h / 24 km

Gulp. Großartig. Der helle Schein vor meinem Fenster ist nicht etwa Sonnenlicht, sondern Schnee. Voller Widerwillen stehe ich auf und husche Richtung Frühstück. Saukalt draußen. Naßkalt.

Der gute Wirt von meinem Berggasthof macht mir am Ende einen besseren Preis als angedroht - wie viele Gastgeber, mit denen ich mich gut verstanden habe. Ich kriege quasi Frühstück und Abendessen geschenkt. Als ich fertig gepackt vor dem Haus stehe, ringe ich noch eine gute Minute mit mir, ob ich heute nicht vielleicht doch die kurze/einfache Variante mache. Schon wieder Entscheidungen. Ich wollte doch in diesem Urlaub eigentlich damit aufhören? Also los, rauf auf den Berg. Irgendwie mag ich Schnee ja auch. Die erste Stunde ist zwar identisch mit meiner kleinen Pausentagstour von gestern, aber wurscht. Bei dem Wetter und mit der Schneedecke sieht alles sowieso ganz anders aus (siehe Post "Vergleichende Fotografie"...).

Der Schnee matscht schwerfällig unter meinen Stiefeln rum, wenigstens ist der Wind heute nicht so stark und ich noch dazu im Wald, so bleibt der Anstieg eine Aufgabe, die mich nicht viel anders zu dieser Jahreszeit auch im Harz hätte erwarten können. Beim Aufstieg merke ich deutlich, die mit den Höhenmetern auch der Schnee mehr wird. Am Scheitelpunkt auf ca. 1.350m sieht es dann schon aus wie im Winter. Obwohl ich weiß, daß das nächste Dorf gerade mal eine Stunde entfernt ist, fühlt sich das Wandern in dieser Suppe sehr gruselig an. Kaum Sicht, hinter dem weißgrauen Nichts könnte gefühlt auch ein kilometerweiter kanadischer Winterwald kommen. Keine Spuren im Schnee. Das ist nicht nur Alleinsein, es fühlt sich an wie abgeschnitten von der Welt. Brrr. Kragen hochgestellt, Rucksack enger geschnallt und weiter.


Nur eine Stunde beim Abstieg später setzt das Tauwetter ein. Der Wind schüttelt dicke Schneebatzen pflatzschend auf den nassen Boden, dicke Tropfen Schmelzwasser regnen schön von oben auf mich herab. Die historische Mine im Wald neben dem Weg suche ich bei dieser naßkalten Bedrohung von oben nur halbherzig und  finde ich daher natürlich auch nicht.
In La Blatte knicke ich dann doch ein und wähle die Küken-Variante: Weiter auf der kleinen Straße statt wieder auf matschigen Feldwegen bergauf. Und nur eine halbe Stunde später wirft zum ersten Mal die Sonne von hinten meinen Schatten auf den Asphalt, während von vorne allerdings noch Schnee kommt. Das ändert sich zügig, nochmal 100 Meter tiefer wird es schon wieder grün. Es regnet oder graupelt zwar noch zwischendurch, aber der in der Sonne dampfenden Straße schaue ich doch ganz gerne zu...





Beim Abstieg mache ich ein paar Faxen mit einer Herde Aubrac-Rinder, sitze mich zum ersten Mal an diesem Tag hin, weil ich Aussicht und Sonne genießen will, winke vom Weg aus einem picknickenden Rentnerpäarchen auf dem Autobahnparkplatz zu, durchquere das wahrscheinlich ärmlichste Dorf Frankreichs in einem verlassenen Tal neben der Autobahn und irre schließlich durch die kleinen Gassen von Marvejols. Ein gütiges Dorf, es serviert mir sofort einen Supermarkt, einen Bäcker und einen Tabakladen, in dem ich morgen - uuuuh! - vielleicht sogar Postkarten kaufen werde.

Mein Hotel versteckt sich hinter seinem Parkplatz, ganz klein steht der Name neben einer Telefonnummer in der Scheibe einer unscheinbaren Tür. Der Typ an der Rezeption murmelt nur muffeliges Zeug. Ich lande mal wieder im Loserzimmer direkt am/im Treppenhaus. Hinter der Zimmertür aber die weite Welt: Eine Badewanne mit ordentlich Platz, die Fugen der Badezimmerfliesenkacheln clever in rot eingefärbt, wegen a) Effekt und b) würde man den Schimmel nicht so schnell sehen, wenn welcher da wäre. Eine Zwischentür, damit man vom Flur nix hört. Eine warme Heizung, auf der meine frisch gewaschenen Sachen trocknen. Hier gehe ich heute nicht mehr raus. Von Fenster aus kann ich den ganzen Abend gut beobachten, wie der Regen zuverlässig auf den Parkplatz fällt.

Ich denke über die Höhen und Tiefen dieser Reise nach und bin erstaunt, wie klein manchmal die Dinge sind, die große Ausschläge verursachen. Anspruchslose Stunden im Dauerregen. Resigniert-ätzende Hotels. Oder andersherum: Doch nochmal auf nen Stein gesetzt und ne halbe Stunde ins Tal geguckt. Der freundlich grüßende Bauer im Trecker. Die Sonne, die sich heute doch noch die Oberhand gewonnen hat. Vor allem aber erstaunt es mich, wie durchlässig ich gegenüber solchen Momenten geworden bin. Ich mach sie alle mit, ich nehme sie alle in mich auf, sie alle dürfen mitkommen. Irgendein Filter in mir sucht sich heraus, was gerade passt, ohne daß ich irgendein Zutun hätte. Wenn ich einen Schritt zurück trete, sehe ich, daß sich schon seit mehreren Wochen das Unterwegssein verselbstständigt hat. Aufbrechen, laufen, ankommen. Die Kilometer laufen ganz einfach an mir vorbei, die Tage auch. Schon wieder eine Woche rum. Die fünfte? Die sechste? Ich müßte nachrechnen. Mit heute bin ich 888 km unterwegs, am Wochenende werde ich wohl die 1.000 vollmachen. Und dann? Weiter.

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