Dienstag, 20. März 2012

Selber schuld.

Montag, 19.03.2012
Saint Palais - Dognen
10 h - 44 km

Der Tag beginnt sanft. Sanft aus Saint Palais raus, sanfte Wege durch die umliegenden Bauernhöfe, sanfter Anstieg zu dem Hochweg, den ich die nächsten 2 Stunden nehmen will, sanfte Aussichten von den Hügelkuppen.

Von überall her drängt nun der Jakobsweg, mein Trauma, ins Bild. Wegweiser für den Hauptweg, kleine Altärchen, Wegweiser mit Alternativwegen zum Jakobsweg. Mein einziger Trost: Alles nur in die Gegenrichtung markiert, der Jakobsweg will eine Einbahnstraße bleiben. Zur vorgesehenen Erleuchtung bitte gerne, gegen den Strom eher nicht. Wenigstens sehe ich seit zwei Stunden immer die gleichen zwei Fußspuren im Matsch vor mir auf dem Boden, die in die gleiche Richtung gehen, wie ich.

Kurz vor Mittag wird mir klar, daß ich mich irgendwie total verkalkuliert habe. Die schönen Wege der letzten Stunden haben zuviel zeit gekostet. Ich bin seit 4h unterwegs und habe auf der Karte nach Augenmaß noch nicht mal die Hälfte des Weges geschafft. Kurzer Panikmoment. Das ausgelassene Abendessen von gestern Abend grinst höhnisch von der linken Schulter, die einzige noch volle Wasserflasche trägt auch nicht zur Beruhigung bei. Ich schalte auf Straßenmodus. Links einordnen und Vollgas geben. Die Landstraße spendet keinen Schatten und sie läßt keinen Anstieg aus. Nur die Dorfdurchfahrten sind kleine Oasen. Schattig, abwechslungsreich und immer mit der kleinen Hoffnung auf etwas Gutes. In Aroue laufe ich an der Dorfpizzabude vorbei, ohne es zu merken. 100m später sehe ich sie dann doch, als ich mich nach einem LKW umdrehe, wende den Gedanken an ein ordentliches Mittagessen in meinem Kopf und verwerfe ihn angesichts der Angst, danach nicht mehr in die Gänge zu kommen. 

Ursprünglich wollte ich heute bis Navarrenx gehen, aber meine vorrecherchierten Unterkünfte waren ausgebucht (von wem eigentlich, zur Hölle?). Dafür gibt es 4km weiter ein kleines Château auf dem Dorf, wo Familie Mr et Mme Michel Prat Zimmer vermieten. Das wollte mich mir nicht entgehen lassen. Mein erstes Telefonat auf Französisch war - ähm - ausbauwürdig, führte aber zum Ziel. Nämlich zu wissen, daß in Dognen ein Bett und ein Abendessen auf mich warten würde.

Ich habe keine Ahnung, wie dieser Tag ohne dieses Wissen ausgegangen wäre. Unten an der Brücke über die Saison (der Fluß heißt wirklich so) falte ich nochmal die Karten auseinander, um einen schmerzenden realistischen Überblick darüber zu bekommen, was mich heute noch erwartet. Es ist 1600, ich bin seit 7h unterwegs und vor mir liegen noch 3 Kartenfalze. Macht 3 Stunden. Ach. Du. Scheiße. Hinter der Brücke trinke ich mein letztes Wasser und bin auf dem Tiefpunkt. Nicht mal mehr den gutaussehenden Angler mag ich grüßen. Zehn Minuten später bin ich soweit, den Daumen für das nächste Auto rauszuhalten.

Das kommt allerdings nicht. Während der nächsten Stunde kein einziges Auto. Dann ein Renault mit Anhänger, allerdings nicht anhaltewillig. Scheiße. Weiter. Im nächsten Dorf an der größeren Straße wieder Daumen raus. Nein. Alles fährt vorbei, sogar das Taxi. Irgendwann ist es auch schon egal, ich bin schon bald an der Kreuzung. Ich packe mir den iPod in die Ohren. Das Einzige, was in so einer Situation noch hilft. Nicht verzweifeln, auf stur schalten und weiterlaufen. In Navarrenx nehme ich kurz Notiz von irgendwelchen mittelalterlichen Festungsanlagen, die man bestimmt hätte schön besichtigen können, nehme den "Huit à 8"-Markt im Sturm und kaufe 2 Liter Orangina und 2 Liter Cola, von denen nur ein Teil der Cola den Rest der Wanderung noch erlebt. Auf den letzten 4 Kilometern schwimme ich in Jasses durch einen absurden Strom von geparkten Autos und fein angezogenen Menschen, als wäre gerade das Dorffest zu Ende. Ein paar hundert Meter weiter stelle ich fest, daß es eine Beerdigung war; vor dem Friedhof ballen sich hunderte Leute, durch die ich mir wie ein totales Alien einen Weg bahne. Alles egal. In der Abenddämmerung komme ich an, schüttele dem Patron die Hand und wanke in mein kleines Château-Zimmer. Ich hab Angst, meine Socken auszuziehen und das Elend zu begutachten. Es fühlt sich furchtbar an, ist aber weniger schlimm, als ich angenommen habe. Nach der Dusche liege ich noch eine halbe Stunde ausgelaugt und fröstelnd im Bett, bevor es Zeit zum Abendessen ist. 

Im Eßzimmer teile ich mir mit dem Wirtsehepaar und einem älteren Gästepaar den großen Eßtisch. Es dauert nur drei Minuten, bis alle neugierig nach dem woher/wieso/wohin zu fragen anfangen. Obwohl ich wie erschlagen bin, wird es ein guter Abend, die heiße Suppe, der Rotwein, überhaupt das Essen und vor allem die Erkenntnis, daß meine Französischkenntnisse anscheinend ausreichen, um in Grundzügen das deutsche Arbeitslosengeld-System zu erklären, wärmt von innen. Ich verstehe von den Tischgesprächen bei Normalgeschwindigkeit nur die Hälfte, bin aber trotzdem glücklich. Um kurz nach Neun ist Schlafenszeit. Es dürfte nur einen tiefen Seufzer lang gedauert haben, bis ich eingeschlafen bin.

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