Dienstag, 20. März 2012

Die Versöhnung mit dem Universum.

Dienstag, 20.03.2012
Dognen nach Oloron-Sainte-Marie
4,5 h - 22 km

All die Schmerzen und der Murks von gestern sind wie weggeblasen. Die Stiefel zu binden, war zwar heute früh eine echte "Angst vor Schmerzen"-Aufgabe, aber nach ein paar hundert Metern hat sich alles wieder einigermaßen normal angefühlt. Nur ein mittlerer Muskelkater hat mir noch deutlich zu verstehen gegeben, daß die Tour gestern doch etwas übertrieben war.

Ich tapse durch nebelige Dörfer in der Vormittagsstille. Hier herrscht genauso wie in Deutschland auf dem Lande Verdunklungspflicht. Fenster zu. Fensterläden zu. Alles bleibt im Haus oder ist noch besser erst gar nicht da. Nur die Hunde halten die Stellung, und meistens sind sie so überrascht über mein Vorbeiziehen, daß sie gar nicht, zu spät oder nur um den guten Ton zu wahren bellen. Im zweiten Dorf fällt mir das Offensichtliche auf: Die Häuser sind hier komplett anders als in den letzten Tagen. Oben in den Bergen herrschten immer noch die niedrigen weißgekalkten Häuser mit den assymetrischen Dächern und der Entscheidungsfrage "Fensterläden in rot/blau/grün?" vor, hier unten ist das völlig anders. Im Flußtal der Oloron liegen die Dörfer eingeigelt wie in Erwartung eines Angriffes. Jeder Bauernhof eine kleine Festung: Jede Tür gleich ein Tor mit Torbogen. Im Erdgeschoß keine Fenster.




Eine Stunde später kommt mir auf dem Feldweg eine ältere Dame entgegen, mit kälteroter Nase macht sie ihren Morgenspaziergang. Jeden Morgen 8 km. Wir kommen schnell ins Gespräch, sie wandert seit mehreren Jahren mit ihrer Tochter in 2-Wochen-Etappen den Jakobsweg, ich erzähle ihr von meiner Tour und sie wirft zu meinem vollkommenen Erstaunen quasi nebenbei die schönste Metapher für meine Situation vor dem Ausstieg aus dem Job auf den Tisch. Schöner und knapper, als ich das bisher zusammenfassen konnte: "comme un citron pressé". Wie eine ausgepresste Zitrone.

Das Hoch hält den Rest des Tages an. Zum ersten Mal seit einer Woche laufe ich nicht quer zur Landschaft, sondern mit ihr. Entlang am Fluß nach Oloron-Sainte-Marie. Zum ersten Mal durch ein Stück zusammenhängenden Wald, über herrliche Wege und Wiesen ohne Stacheldraht. Weil ich Zeit habe, mache ich eine lange Mittagspause neben dem Weg, schaue den kämpfenden Eidechsen im alten Laub zu, schreibe den Text für den gestrigen Tag nach, lese ein bißchen, esse einen Apfel und schaue - vor allem - einfach nur dumm in die Landschaft.

Ich bin einem kleinen regionalen Wanderweg dankbar, der mich auf verschlungenen Wegen und ohne, daß ich auch nur über einen einzigen Stacheldrahtzaun klettern muß, nach Oloron-Sainte-Marie bringt. Ich lande in einem schrägen Vertreter-Hotel am Bahnhof, das nach neuem Baumarktteppich riecht. Der Gast im Zimmer nebenan hat sich weibliche Gesellschaft eingekauft und singt eine halbe Stunde später eine Musiksendung auf TF1 mit. Ab 2200 stehen dem interessierten Zuschauer auch die "programmes adultes XXL et Private Spice" zur Verfügung. Das gibt dem Hotel auch nicht mehr Wärme. Dem Saftladen für 60 EUR / Nacht.

Ich kippe meine grobe Planung für die nächsten Tage und telefoniere - in guter Erinnerung an mein kleines Château von gestern - einige kleine private Gästehäuser durch. Ich hab das Gefühl, daß das mehr Spaß macht als Kleinstadthotels.

Der Wind pfeift durch die Flure und heult unter meiner Zimmertür hindurch. Bevor ich schlafen gehe, baue ich mir mit den Zusatzkissen aus dem Schrank eine kleine Barriere von innen vor die Tür. Ein kleiner, dicker, zufriedener Tag geht zu Ende.

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